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McEwans

© NewYorkTimes/Redux/laif

Rezension: Die Lücke im Zahnfleisch

Dämon des Sexus: Ian McEwans Roman „Am Strand“ analysiert eine missglückte Hochzeitsnacht.

Von Gregor Dotzauer

Allein das Wort. Aus welcher präkambrischen Epoche schaut es in die Gegenwart herüber und hat seinen ganzen Bedeutungshof von Bangen und Hoffen, Sichverzehren und -aufsparen eingebüßt. Die Hochzeitsnacht ist in einer sexuell liberalisierten Gesellschaft nicht einmal mehr eine Chiffre für das erste Mal. Man kann sich mit dem englischen Schriftsteller Ian McEwan höchstens fragen: Zu welchem Preis? Denn die von Verboten geschürte Sexualangst ist vielleicht nur die Kehrseite einer permissiven Welt, in der das Diktat des vermeintlich Selbstverständlichen und die Pflicht zu sexueller Erfüllung ebensoviel Druck erzeugen. Nichts trifft die Lage besser als der Ausdruck, wir seien mittlerweile oversexed and underfucked.

Das Jahr 1962, in dem McEwan sein jüngstes Buch „Am Strand“ (On Chesil Beach) angesiedelt hat, erfordert deshalb zwar ein gehöriges Maß an historischer Kulissenschieberei, dem der Autor mit Freude und Akribie entspricht. Zugleich dient es ihm als Vergrößerungsglas, unter das er die Geschichte von Edward und Florence legt – die Geschichte ihrer Hochzeitsnacht. Denn, so schreibt er über sexuelle Probleme gleich im ersten Absatz: „Einfach sind sie nie.“ So, wie der Katholizismus von Graham Greenes Figuren deren moralische Konflikte nur zusätzlich beschwert, nicht aber definiert, so erhöht die englische Prüderie zu Anfang der sechziger Jahre den Einsatz dieser beiden Liebenden nur – bei McEwan bis zu jenen sorgfältig vorbereiteten Sekunden, in denen die ihnen aufgegebene glückliche Verschmelzung ihrer Körper in ein Zerwürfnis für immer mündet.

Ein Scheitern, das man nicht anders als tragisch begreifen kann. Denn die Mehrzahl der Gründe liegt außerhalb ihrer selbst. „Was stand ihnen im Weg“, fragt der Erzähler. „Ihr Charakter und ihre Vergangenheit, Unwissen und Furcht, Schüchternheit und Prüderie, innere Verbote, mangelnde Erfahrung oder fehlende Lockerheit, und dann noch der Rattenschwanz religiöser Verbote, ihre englische Herkunft, ihre Klassenzugehörigkeit und die Geschichte selbst.“

Wobei Edward und Florence, die beiden 22-jährigen Hauptfiguren, einige schwer vereinbare Prägungen und Interessen mitbringen, an denen sich auch Therapeuten die Zähne ausbeißen würden, die behaupten, dass es nie im Leben zu spät sei für eine glückliche Kindheit. Er ein Historiker mit beschränktem Ehrgeiz und einer Leidenschaft für den Blues von Alexis Korner und den Rock’n’Roll von Chuck Berry, sie eine hochbegabte Geigerin, die ganz in Mozart und der Kunst des Streichquartetts aufgeht. Gestalten, die fast bis zur Lächerlichkeit schematisch aufeinander bezogen sind.

„Am Strand“ weitet den Novellenstoff einer „sich ereigneten unerhörten Begebenheit“, wie Goethe das Genre ein für allemal charakterisiert hat, zu einem kleinen Roman mit fünf Kapiteln. In zwei Seitensträngen erzählt McEwan von der familiären Herkunft der Eheleute – und in einer Art Epilog auf den letzten Seiten, wie sich Edward an die Nacht erinnert, die ihr gemeinsames Leben vernichtete.

Von Anfang an steht fest, dass das Ganze böse enden wird. So liegt die Spannung dieses Buchs weniger im Fortgang des Geschehens als in den Beweismitteln, die McEwan auftürmt, um einem Fall schwerer Frigidität gerecht zu werden. Schon ein über anderthalb Seiten geschilderter Zungenkuss, der Edwards Erregung und Florences Ekel „wie ein Prolog auf dem Theater“ verknüpft, was sich zu einem Drama der gegenseitigen Verkennungen auswächst: „Die Lippen fest auf ihre gepresst, tastete er sich über den fleischigen Boden ihrer Mundhöhle und fuhr die Zahninnenseite ihres Unterkiefers entlang bis zu jenem Loch, in dem vor drei Jahren noch ein schiefer Weisheitszahn gewachsen war, bis man ihn dann unter Vollnarkose gezogen hatte. Wenn Florence über etwas nachdachte, verirrte sich ihre eigene Zunge oft in diesen Spalt, weshalb er für sie eher eine Idee war als ein konkreter Ort, ein Freiraum für Gedanken statt eine bloße Lücke im Zahnfleisch, und es irritierte sie, dass eine andere Zunge dorthin vordringen konnte.“

Ian McEwan, geboren 1948, ist der Virtuose einer solch mikroskopischen Präzision, bei der die Erzählzeit die erzählte Zeit überwuchert. Ein klemmender Reißverschluss, ein widerspenstiges Schamhaar: Es gibt nichts, was er nicht zum Ereignis machen könnte – und doch bleibt er seiner maliziösen Ungerührtheit dann nicht treu. „Mit Liebe und Geduld“, heißt es am Ende, „wären sie schon zurechtgekommen“, als Edward vierzig Jahre später, unter dem Kunstgriff einer erzählerischen Beschleunigung und der Erkenntnis, dass ihn nie mehr eine Frau derart bewegt habe, noch einmal über Florences Vorschlag nachdenkt, ihn zu halten, aber für Affären freizugeben.

Darin liegt letztlich die Unentschiedenheit dieses Buches. Edwards sentimentale Wendung steht im Widerspruch zu der medizinischen Präzision, die McEwan beansprucht. Seine zutiefst im 20. Jahrhundert verankerte Schreibweise, die das Physiologische alles menschlichen Erlebens erkundet, kollidiert mit dem Versuch, einen schicksalhaften Bogen zu spannen, der eher ins 19. Jahrhundert gehört. Ja, als Fazit von Edwards Leben überwölbt er die aus einem fatalen Moment geborene Unmöglichkeit ihrer Liebe – und zeigt sie auf einmal doch als Möglichkeit: Das Tragische wird auf einen Schlag zum Melodram.

Diese Zwiespältigkeit rührt vor allem daher, dass McEwans Figuren die Frage, ob sich Liebe und Sexualität trennen lassen, bejahen, während er selbst, der irdischste aller Erzähler, dem platonische Himmel seit jeher als Lug und Trug erscheinen, sie jederzeit verneinen würde. Was immer an einer Vereinbarung, die Liebe und Sexualität auseinander dividiert, fortschrittlich sein mag, sie funktioniert – wenn überhaupt – nur unter freien Menschen. Der Vorschlag, den Florence macht, basiert darauf, dass sie den Ausweg aus einer von ihr selbst als pathologisch empfundenen Situation sucht.

Kaum zu überschätzen ist aber, wie Ian McEwan der Hilf- und Sprachlosigkeit seines Paars Worte verleiht – weit darüber hinaus, dass er sie als „Gefangene ihrer Zeit“ beschreibt. Wenn Florence bedauert, dass für das, was ihr zugestoßen sei, erst noch eine Sprache erfunden werden müsse, so hat er sie mit diesem kleinen Buch geprägt.

Ian McEwan: Am Strand. Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Diogenes, Zürich 2007. 208 Seiten, 18,90 €.

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