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Roman: Schmerz und Scham und ein Friseursalon

In ihrem zweiten auf Deutsch erschienenen Roman „Die Haarschublade“ beschreibt Emmanuelle Pagano einen brutalen Weg des Erwachsenwerdens.

Narben erzählen etwas. Sie erinnern an Menschen, an Orte, an Unglücke. Sie sind der Beweis dafür, dass man eine Geschichte hat, der Beweis dafür, dass Verletzungen heilen können. Narben sind überstandener Schmerz. Die offenen Wunden fühlen sich gewaltig an beim Lesen der Geschichte einer jungen Französin, die mit nur 14 Jahren ein schwerbehindertes Kind zur Welt bringt und damit Unordnung in eine Dorftristesse, in der Kinder mit Tränengasgranaten spielen sollen und die Vorhänge zugezogen sind. Ist dieses Kind Pierre eine Narbe, die man stolz seinen Freunden präsentieren kann? Oder ist Scham angebracht?

In ihrem zweiten auf Deutsch erschienenen Roman „Die Haarschublade“ beschreibt Emmanuelle Pagano einen brutalen Weg des Erwachsenwerdens. Im Frisiersalon gelingt es ihrer jungen Protagonistin fast, den Sohn zu vergessen. Dort kann sie, wie sie es nennt, „Einsamkeiten frisieren“ – das Haar ihrer Kundinnen waschen, bürsten und verlängern, das Schneiden ist der Chefin vorbehalten. Den Schmerz, der tief in ihr schreit, verbirgt sie hinter Freundlichkeiten. Ihre Verzweiflung versucht die junge Frau zu übertönen, indem sie das Radio mit ins Bett nimmt, es laut stellt und es sich aufs Ohr legt. Ihre Hände klammern sich an eine ihr abgeschnittene schwarze Haarsträhne wie an einen Talisman.

Sie glaubt an die Kraft der Strähne, die sie in ihrer Haarschublade aufbewahrt, bis die Mutter sie entsorgt. Wie dieses tote Haar soll auch Pierre fortgebracht werden. Zu groß und schwer ist er geworden. Das Füttern und Tragen des bewegungslosen und kaum Mimik offenbarenden Kindes wird zur Last. Die Nachbarn können nun sehen, dass Pierre nicht gesund ist. Kein Stolz steht der Großmutter mehr ins Gesicht geschrieben, wenn sie mit ihrem Enkel gesehen wird. Pierre ist nicht mehr vorzeigbar.

Im zwei Zugstunden entfernten Heim hat ein Toter Platz gemacht für einen Toten, der nicht tot ist. Pierres Ärzte meinen, er höre nichts, sehe nichts. Wie viel er wirklich von der Welt wahrnimmt, kann niemand mit Bestimmtheit sagen. Seine Mutter ist sich nie sicher, ob er schläft oder wacht.

Pagano lässt eine junge Mutter zu Wort kommen, die es gewohnt ist, Probleme mit sich allein auszumachen. Die Sprache der 40-Jährigen ist unheimlich klar. Schnörkellos legt sie die Gedanken der Mutter offen. Beim Lesen fühlt man sich als unerwünschter Beobachter. Das Hinschauen schmerzt auf einigen Seiten so sehr, dass man sich kaum traut, umzublättern. Man möchte das Buch zuklappen, endlich weggucken, doch wagt man nicht, diese Frau allein mit ihrem Schicksal zurückzulassen.

Emmanuelle Pagano: Die Haarschublade. Roman. Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer-Semlinger. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2009. 136 Seiten, 16,90 €.

Juliane Primus

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