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Sehnsuchtsbücher: Die Zeit und die Insel

Joachim Sartorius und Judith Schalansky beschäftigen sich mit einer zwiespältigen Sehnsucht.

Gäbe es eine Wissenschaft von den Inseln, sie hätte mit Sehnsüchten zu tun. Denn für gewöhnlich sehnt man sich nach Inseln. Sie verheißen Ferne vom eigenen Ort, übersichtliche Verhältnisse und Beschränkung des Lebens aufs Wesentliche. Inseln sind eine Rückkehr zum Ursprung, überzogen von einem Hauch Paradies. Das ahnte die Antike, in der die Kanaren Inseln der Glückseligen hießen. Das wurde der Neuzeit klar, als der Franzose Bougainville Tahiti „entdeckte“. Und das wissen heutige Werbeprospekte für Urlaubsreisen auf Bali oder die Malediven.

Die Insel als Paradies fernab von allem ist aber nur die halbe Wahrheit. Das abgeschiedene Reservat kann zugleich ein Laboratorium des Antizivilisatorischen, des Regressiven, ja: des Höllischen sein. Auf der Gefängnisinsel Château d’If vor Marseille oder in Titos Straflager auf Goli Otok in der Adria wusste man Übersichtlichkeit lange als Überwachbarkeit zu schätzen. Und was sich dem Blick der Öffentlichkeit entzieht, eignet sich bestens für Kernwaffentests – wie das Bikini-Atoll oder Mururoa. Gar nicht selten also gibt es gute Gründe, sich fortzusehnen von den Inseln.

Sehnsuchtsbücher könnte man auch den realen Insel-Reisebericht von Joachim Sartorius und die Berichte über nie unternommene Insel-Reisen von Judith Schalansky nennen. Das Sehnsuchtsland des Berliner Dichters und Essayisten Sartorius ist ein Archipel: die türkischen Prinzeninseln im Marmarameer. Knapp 15 Minuten mit der Schnellfähre trennen sie vom europäischen Teil Istanbuls.

Natürlich kennt Sartorius’ Text „die Heiterkeit, die Stille und die Schönheit der Insel“. Viel weiß er von Rückzug, Gelassenheit, Autoverbot und ursprünglicher Schlichtheit. Man speist hier, wie es sich gehört, Fisch, Brot und Wein oder Raki. Komplettiert werden diese Paradiesinseln von etwas Erotik und – Schreiblust. Inseln sind, seit Odysseus mit schwarz geschnäbeltem Schiff durchs Mittelmeer pflügte, Erzählgeneratoren. Davon zeugen sowohl einige Regalmeter schematischer Abenteuerliteratur als auch die erstaunliche insulare Dichterdichte etwa Irlands oder Siziliens.

Auf Sartorius’ Archipel schimmert sogar ein vergangenes irdisches Paradies in die Gegenwart hinein. Einst nämlich waren die Inseln Ort einer hellenistischen Utopie mit griechischen, armenischen, jüdischen und türkischen Bewohnern. Doch spätestens bei Sartorius’ Reise haben der „Bevölkerungsaustausch“ von 1923, das Istanbuler Pogrom von 1955 und die Ausweisung aller Griechen ohne türkischen Pass im Jahr 1964 diese Utopie einer kosmopolitischen Gesellschaft ruiniert. Immerhin wird offensichtlich, dass nicht nur das lateinische Christentum, sondern auch Byzanz zu Europas Wurzeln gehören. Offensichtlich wird auch, dass der begrenzte Raum der Inseln bei Sartorius das Nachdenken über die Zeit forciert.

Ganz anders sieht Judith Schalanskys Projekt eines „Atlas der abgelegenen Inseln“ aus. Es folgt der Tradition sehnsüchtiger Reisen mit dem Finger auf der Landkarte oder Xavier de Maistres „Reise um meine Zimmer“: Schalansky, nachdem sie über Grundlagen der Herstellung und Lektüre des hybriden Bild-Text-Mediums Karte aufgeklärt hat, kartiert „Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde“.

Dabei stattet die 1980 in Greifswald geborene und heute gleichfalls in Berlin beheimatete Autorin, die sich schon durch ihre Ausbildung auf grafisches Design versteht, ihr Buch mit Insel-Illustrationen sowie räumlichen Koordinaten und geschichtlichen Erzählungen aus. Man trifft Charles Darwin auf den Südlichen Keelinginseln, begleitet die Heimkehr des toten Napoleon von St. Helena, verfolgt den Krieg zwischen Roten Landkrabben und Gelben Spinnerameisen auf der Weihnachtsinsel und geht auf der Kokos-Insel auf Schatzsuche.

Vor allem aber gibt es bei Schalansky, die 2008 mit dem autobiografisch geprägten Roman „Blau steht dir nicht“ als Erzählerin debütierte, an der Ambivalenz des Insularen keinerlei Zweifel. Die vermeintlichen Paradiese können trostlos, öde, wertlos sein. Ihre Abgeschlossenheit, der „insulare Ausnahmezustand“, befördert verborgene Völkerrechtsbrüche, Mord, Kannibalismus, Vergewaltigung. Auf Fangataufa im Pazifik zündet Frankreich eine Wasserstoffbombe, die australische Norfolkinsel wird Sträflingskolonie, mehrere Todesfälle auf den Galapagosinseln werden nie aufgeklärt.

Was also gibt es zu lernen? Inseln sind immer beides: Orte des Abscheus und des Begehrens, der Flucht und der Zuflucht, Paradiese und Höllen. Das Wasser, das sie umgibt, schließt sie von allem ab, suggeriert aber zugleich unendliche Offenheit. Die Insel ist zweifellos ein Territorium eigenen Rechts. Doch sie existiert, das zeigen Schalanskys Karten und Koordinaten, zugleich nur in Bezug auf anderes – andere Inseln oder das Festland. Da sie gleichermaßen Totalität wie Fragment sind, könnte man sagen: Inseln bilden ein Paradigma des relationalen Denkens schlechthin. Und da sie alles sein können, werden sie so bald nicht aufhören, eine grandiose Projektionsfläche für verschiedenste Wünsche und Befürchtungen zu sein.

Joachim Sartorius: Die Prinzeninseln. mareverlag, Hamburg 2009. 128 S., 18 €.

Judith Schalansky: Atlas der abgelegenen Inseln. Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde. mareverlag, Hamburg 2009. 144 Seiten, 34 €.

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