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Lyrik: Stilhecht im Karpfenteich

Das deutsche Lyrikwunder und der Alltag: Was die jüngsten Anthologien zu bieten haben.

Zu meinen jüngsten Ernüchterungen, ich gestehe es ungern, gehören die periodisch erscheinenden Lyrikanthologien. Bereiten sie mir doch ein Gefühl zwischen dem schlechten Gewissen eines Säumigen und der Sauertopfaufwallung des enttäuschten Liebhabers. Dabei weiß ich selbst zu gut, welche Ermutigung und Flügelluft ein solches Dabeisein schenkt.

In DDR-Jahren existierte ein vergleichbares, zweijährlich erscheinendes Periodikum: „AUSWAHL. Neue Texte, Neue Namen“. Es brachte jeweils bis zu sieben Gedichte von etwa 30 Autoren, die noch keinen eigenen Band hatten, denen aber die drei Herausgeber einen solchen zutrauten und die sie in ihren Verlagen förderten. Da es kaum andere Foren gab, hatte dieser Tummelplatz starke Anziehungskraft und das „Drinsein“ den Wert eines Ritterschlags. Wer erinnert sich nicht seiner Überwältigung durch Anthologien, die zu Klassikern wurden und noch Jahrzehnte als Taschenbücher weiterverlegt wurden: allen voran Enzensbergers „Museum der modernen Poesie“ und Kurt Wolfs Expressionismussammlung „Der jüngste Tag“, schon mit großem Abstand gefolgt von Walter Höllerers „Transit. Buch der Jahrhundertmitte“, Bernd Jentzschs „Das Wort Mensch“ sowie Joachim Sartorius’ „Atlas der neuen Poesie“ und Harald Hartungs „Luftfracht“. Diese Sammlungen waren leuchtende Momentaufnahmen, Querschnittsbefunde eines gedehnten historischen Augenblicks. Hier machte ich, dank der Kompetenz und Leidenschaft inspirierter Kenner, Entdeckungen, zu denen ich von Zeit zu Zeit zurückkehre.

Als Jan Wagner und Björn Kuhligk, Kerner und Kernnamen ihrer eigenen, jungen Lyrikergeneration sich vor fünf Jahren zu Rechercheuren und Ausrufern von ihresgleichen machten, war auch das, verstärkt durch Gerhard Falkners ebenso scharfsinniges wie wohlwollendes Vorwort ein literarisches Ereignis, das Aufmerksamkeit für in seltener Breite herangereifte Talente erheischte. Scheute ich lange davor zurück, mich diesem Chor von 74 (!) Individualisten zu stellen, erkenne ich heute den unbestreitbaren Rang dieses auch schön gestalteten Dokuments mit Zügen einer sanften Supernova.

Wie steht es nun um den Versuch einer Fortsetzung und Kanalisierung des in fünf Jahren Nachgereiften oder auch Nachgereichten: der Veralltäglichung und Verwaltung des Wunders? (Wagner/Kuhligk (Hg.): Lyrik von JETZT zwei. Berlin Verlag, Berlin 2008, 288 S., 19,90 €). Obwohl es ausschließlich neue, damals noch nicht vernehmbare oder nicht berücksichtigte Stimmen sind, entsteht allein durch den Zähltitel der Eindruck eines lediglich gröber gerasterten „Jahrbuchs der Lyrik“ für die Jungen, von denen den Begabtesten Christoph Buchwalds Seiten seit über zwanzig Jahren offenstehen. Nimmt man dann noch erfreut zur Kenntnis, dass etwa jeder zweite der Autoren von 2003 und jetzt inzwischen einen eigenen, einige gar schon mehrere eigene Gedichtbände haben, wirkt diese Baumschule mit ihren schachbrettartigen Versuchsbeeten (stets vier Gedichte pro Kontingentquadrat) nicht mehr so dringend, erscheint sie wie ein voll bepflanztes Gewächshaus, dessen feuchte Wärme einem die Luft nimmt und an Flucht denken lässt.

Ich habe in diesem Versdschungel zwei Lesetage zugebracht, mich aber nicht gut bei Laune gehalten gefühlt. Die Hochbeete in Schleifen abgehend, blieb ich vor jedem Viererpack stehen. Wer, und sei er besten Willens, vermag, 50 verschiedene, oft genug kaum zu unterscheidende Sorten beim Namen zu nennen und anderntags, übers Jahr, wiederzuerkennen? Hier würden Fotos helfen, eine CD mit den Stimmen. Björn Kuhligk und Jan Wagner standen nicht an, Lyrikdeutschland den Superstar zu suchen. Sie wollten nicht willkürlich zuteilen, sondern jedem denselben Raum geben und das Urteil dem Leser überlassen. Der sich aber (vier Texte reichen nicht) überfordert und alleingelassen fühlt. So wird Fairness zu Fadheit, Gleichheit zum Gleichmaß, Polyphonie zu Monotonie.

Unter dem Gesichtspunkt wünschbarer Dichte und Akzentuierung reicht die von den Herausgebern vorgenommene Verminderung auf 50 Stimmen nicht aus. Noch einmal minus 25! So wie in dem von Ron Winkler herausgegebenen „Neubuch“, das überdies mit einem kenntnisreichen Nachwort von Ulrike Draesner glänzt (Yedermann Verlag, München 2008, 232 Seiten, 12,90 €). Dann begänne der Karpfenteich zu schäumen, hätten Stilhechte wie der in seiner Benn-Nachfolge beeindruckende Carl-Christian Elze und die uns in ihrer leisen Magie in Bann ziehende Ulrike Almut Sandig eine echte Chance, sich unter den Stärksten wahrnehmbar zu profilieren. So aber ist immer noch zu viel Beliebiges zu finden, von Talenten, die kein Dichterleben bestehen und demnächst in weichere Sessel sinken werden. Denn die meisten haben studiert und werden, so sie eine Anstellung finden, in dieser so ausgequetscht werden, wie man das unter Zwiebeln mit Zitronen tut. Vorbei die Zeiten eines Doktor Benn, der nach seinem Schonplatz beim Militär seine ärztliche Praxis auf Sparflamme betrieb.

Der Acker der Poesie ist steinig. Er wird die wenigsten seiner Versbauern auch nur dürftig nähren. Die meisten werden ab- und auswandern. In Brotberufe oder mindestens in die Diätprosa. So wird auch von dieser so großen Dichterschar, in deren Mitte ich erfreut mehrere Studentinnen meines Gastprofessursemesters am Leipziger Literaturinstitut wie Luise Boege, Mara Genschel und Sandra Trojan wiederbegegnete, am Ende jenes halbe Dutzend Großer übrig bleiben, wie wir es seit den Minnesängern, Barockdichtern und Expressionisten kennen.

Was bleibt im „Hof meines Gedächtnisses“? Nora Bossongs todtraurige Kindergreise, Herbert Hindringers groteske Hinfallandschaften, Nadja Küchenmeisters staubfeine Familienforschung, Ralf Meyers „Wiederstedter Elegien“, Swen Friedels „Schwarzer Mann“ und Kerstin Preiwuß’ „Urstromton“. Schließlich Benjamin Maacks finales „Hallo“: „Es ist spät geworden./ Die Sonne fängt schon an,/ die Schatten der Hochhäuser/ ins All zu schießen.“ Sammlungen wie „Lyrik von jetzt“ mögen als Bühne für den Gruppenauftritt einer jungen, hoffnungsvollen Schar taugen. Sind die Scheinwerfer erloschen und haben sich die Marktgänger zerstreut, gilt es, ohne das Warten auf Da-capo-Rufe das Nötige zu Papier zu bringen, ehe auch nur ein einziger Name in Stein gemeißelt wird. Allen Akteuren Glück. Tertium non datur.

Richard Pietraß, 1946 im sächsischen Lichtenstein geboren, lebt als Lyriker in Berlin. Für seinen Band „Freigang“ (Faber & Faber) hat er soeben den Verdi Literaturpreis Berlin-Brandenburg zugesprochen bekommen.

Richard Pietraß

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