zum Hauptinhalt

Türkei und Armenien: Der Massenmord als Trauma und Tabu

Vor der Buchmesse: Wie die türkische Literatur vom Massaker an den Armeniern erzählt.

Wenn eine Aufgabe von Literatur darin besteht, eine Gesellschaft mit ihren Tabus zu konfrontieren, dann erweisen türkische Autoren ihrem Land derzeit einen großen Dienst. Während sich die Türkei als Gastland der am Dienstagabend beginnenden Frankfurter Buchmesse mit dem Slogan „Faszinierend farbig“ präsentiert, herrschte bei einem wichtigen Thema lange eher Eintönigkeit – was nach Meinung vieler Nationalisten, Richter und Staatsanwälte auch so bleiben sollte, sich aber allmählich doch ändert: Immer mehr türkische Autoren greifen das Thema der türkischen Massaker an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs auf.

Zu denen, die dies schon relativ früh taten, zählt Ahmet Ümit, dessen sozialkritische Politkrimis zu den meistverkauften Büchern des Landes gehören und der als einer von rund 300 türkischen Autoren nach Frankfurt reisen wird. In seinem vor sechs Jahren erschienenen Roman „Patasana“, der nun auch auf Deutsch herauskommt, lässt Ümit eine Hauptfigur sagen, die Massaker an den Armeniern seien der „erste Massenmord der Welt“ gewesen.

Die ersten literarischen Versuche zur historischen Erblast gab es in den neunziger Jahren. „Damals wurde es langsam möglich, dass das Einzelschicksal in der Literatur seinen Ausdruck und seinen Leser finden konnte“, sagt der deutsche Historiker Christoph Neumann, der eins der ersten türkischen Bücher zum Thema ins Deutsche übersetzte: Ayla Kutlus Erzählung „Der Seelenvogel“. Aber dieFrage des türkischen Nationalismus zu verknüpfen mit der Frage der Vernichtung der armenischen Anatolier, das sei erst heute möglich geworden.

1993 wurde der erste armenische Buchverlag der Türkei gegründet, der ArasVerlag. „Absicht des Verlags war und ist es, die Literatur der türkischen Armenier und zugleich die armenische Kultur und Geschichte bekannt zu machen“, sagt Verlagsleiter Robert Koptas. „Wir wollten mit Büchern die Vorurteile gegen die Armenier überwinden.“ Mit Veröffentlichungen wie den Erzählungen von Migirdic Margosyan weckte der Aras-Verlag das Interesse türkischer Leser an der Geschichte der anatolischen Armeniern. Margosyan erzählt von seiner Kindheit im armenischen Stadtviertel der heute kurdischen Stadt Diyarbakir in den vierziger Jahren – im sogenannten „Gavur Mahallesi“, dem Gottlosen-Viertel, wie die Kurden den Stadtteil der Christen nannten.

In jüngster Zeit schreiben und äußern sich Schriftsteller auch offen kritisch über den türkischen Massenmord. So manchem Autor wurde deshalb der Prozess gemacht. So wurde im September 2006 ein Gerichtsgebäude am Goldenen Horn in Istanbul zum Schauplatz eines Verfahrens, das in seiner Absurdität selbst schon literarisch-fantastische Qualitäten hatte. Angeklagt war die Autorin Elif Safak, genauer gesagt ihre Romanfiguren. In Safaks Buch „Der Bastard von Istanbul“ schreibt eine Korrespondentin im Internet-Chat mit der armenischen Romanheldin: „Worüber willst du mit normalen Türken reden? Sieh mal, selbst die gebildeten unter ihnen sind entweder nationalistisch oder unwissend. (...) Glaubst du, sie werden sagen: ,Ach ja, tut uns leid, dass wir euch massakriert und deportiert haben und dann seelenruhig alles geleugnet haben.’ Warum willst du dir das antun?“

Eine Beleidigung des Türkentums sei das, fand die Staatsanwaltschaft und forderte dreieinhalb Jahre Gefängnis für die Schriftstellerin, nach dem berüchtigten Artikel 301 des Strafgesetzbuchs. Schon ein paar Monate zuvor hatten nationalistische Ankläger mithilfe dieses Artikels den späteren Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk vor Gericht gestellt, in seinem Fall wegen einer Interview-Äußerung zu den Massakern an den Armeniern. Elif Safak wurde aber zur ersten Schriftstellerin der Türkei, die wegen Äußerungen ihrer Romanfiguren vor Gericht gestellt wurde. Immerhin wurde sie gleich am ersten Verhandlungstag freigesprochen.

Es gibt aber auch immer öfter den gegenteiligen Fall: Literatur, die mit ihrer eindrücklichen Schilderung eines Opferschicksals das Tabu zu brechen versteht – mit großem Erfolg. Vor vier Jahren erschien das bisher wohl wichtigste türkische Buch zu den Massakern an den Armeniern, „Meine Großmutter“. Die Anwältin Fethiye Cetin erzählt darin die Lebensgeschichte ihrer Großmutter, die als Kind von einem türkischen Offizier aus einem Todesmarsch herausgeholt und so gerettet wurde, die ihre armenische Abstammung aber bis kurz vor ihrem Tod sogar vor ihren engsten Verwandten verschwieg.

Obwohl das Buch albtraumhafte Szenen voller Brutalität und Leid enthält, wurde „Meine Großmutter“ nicht zum Gegenstand von Prozessen, sondern zum Bestseller: Inzwischen ist die siebte Auflage vergriffen. Das Schicksal einer einzigen armenischen Familie hat die Türken stärker berührt als alle historischen Dokumente oder politischen Argumente. Eine Brücke, die nur die Kunst schlagen kann, meint Fethiye Cetin: „Ich bin ja eigentlich Juristin, aber den Schmerz von 1915 kann man mit der Kälte des Rechts nicht vermitteln“, sagt sie. „Ich wollte von den Menschen erzählen und ihrem Schmerz, weil kein Gesetz, kein Prozess und keine Strafe die 1915 erlebten Schmerzen ausdrücken kann. Ein Schriftsteller dagegen kann den Schmerz eines Menschen für den Leser sichtbar machen.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false