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Literatur: Unabstürzbar

Von Beruf Reporterin: Anja Jardines Erzähldebüt

Über die Anfänge der Liebe heißt es einmal in Anja Jardines Erzähldebüt, diese hätten sich verändert: „Vor allem, und das war seltsam, bargen sie keine Zukunft mehr, kaum je.“ Auf die Begegnungen und Beziehungen, die von der Wahl-Schweizer Autorin in elf eindringlichen Texten erzählt werden, trifft diese ernüchternde Beobachtung uneingeschränkt zu. Es sind Erzählungen unterschiedlicher Länge, die Jardine unter dem Titel „Als der Mond vom Himmel fiel“ vorgelegt hat, geschrieben in einer soliden wie feinfühligen Sprache. Viele spielen in Großstädten, andere an eher ungewöhnlichen Schauplätzen. Ihre Protagonisten sind meist Single-Frauen um die 40, viele schreiben für Zeitungen. Das ist kein Zufall: Jardine, 1967 in Pinneberg geboren, arbeitet selbst für „Die Zeit“, „Spiegel“ oder die „NZZ“.

In der Fiktion verlieren die Reporterinnen rasch die professionelle Distanz, geraten Situationen außer Kontrolle, werden die Frauen von ihren Gesprächspartnern noch lange in Albträumen verfolgt. Alle suchen sie das richtige Maß zwischen Nähe und Distanz, die jüngeren, die sich noch für „unabstürzbar“ halten, ebenso wie die, die längst desillusioniert sind. Jardine findet viele stimmige Vergleiche und Symbole, von der einsamen Weltraumsonde in „Pioneer 10“, die allmählich den Kontakt zur Erde verliert, bis zu dem rauchenden Erdloch in „Golden Delicious“, in dem die Wurzeln eines Eukalyptusbaumes ausbrennen. Nur manchmal schießt sie sprachlich übers Ziel hinaus, stürzt mittendrin ein Satz ab: Dann „verfinstert“ sich „ein Gemüt“ oder gerät ein die Ernte vernichtender Hagelsturm allzu plakativ.

Ein riskantes Bravourstück aber ist Jardine mit ihrer Schlussgeschichte geglückt. In „Kommst du mit?“ trifft eine Schülerin in Norwegen einen jungen Mann, den sie übers Internet kennengelernt hat, um mit ihm gemeinsam Suizid zu begehen. „Zu Hause war da immer das Licht ihres Computers, wenn sie erwachte (...) Sie konnte zu jeder Zeit mit jemandem sprechen, voller Vertrauen. Genauso wie sie vor elf Tagen Torbens Anfrage im Forum gelesen und ihm sofort geantwortet hatte, um drei Uhr morgens. ‚Ich gehe', hatte er geschrieben, ‚kommst du mit?' Und nun saß er keine zwei Meter von ihr entfernt und war unerreichbar.“

Anders als ihre Figuren findet Anja Jardine stets das richtige Maß zwischen Einfühlung und distanzierter Beobachtung. Voller Mitgefühl und doch unerbittlich folgt sie den Jugendlichen auf ihrem Weg mit zwei Hundeschlitten durch die Schneelandschaft Norwegens. Und enttäuscht souverän die Hoffnung auf ein tröstliches Ende. Oliver Pfohlmann

Anja Jardine: Als der Mond vom Himmel fiel. Erzählungen, Kein & Aber, Zürich 2008. 303 S., 18,90€.

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