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Literatur: Utopie des Neubeginns

Thomas von Steinaeckers lustvolle Inszenierung deutscher Klischees

Der deutsche Wald. Was wären wir ohne ihn. Und vor allem: Was wären unsere Dichter ohne ihn? Ohne Tannenwald kein Deutschland. Auch in Afrika nicht. Ludwig Gerber bringt den deutschen Wald nach Afrika, in die Festung Benesi, gelegen in der deutschen Kolonie Tola. Wir schreiben das Jahr 1913. So jedenfalls wird uns weisgemacht. Das stimmt einerseits, andererseits aber auch nicht.

Thomas von Steinaecker, gerade einmal etwas älter als 30 Jahre, gilt seit seinem Debüt „Wallner beginnt zu fliegen“ zu Recht als einer der hoffnungsvollsten deutschsprachigen Nachwuchsautoren. Sein neuer Roman ist angetan, diesen Ruf zu festigen: „Schutzgebiet“ ist eine Abenteuer- und Schwindlergeschichte, ein postkolonialistischer Roman aus der Kolonialzeit, eine Erzählung von Sehnsüchten und verlorenen Träumen, vor allem aber ein riesengroßer Spaß, den sich von Steinaecker auf dem Rücken deutscher Klischees und Mythen macht.

Angelehnt an die reale deutsche Kolonie Togoland, sind und bleiben die Handlungsorte von „Schutzgebiet“ reine Erfindungen. Tiere und Pflanzen, Menschen und Ereignisse – alles wird hier ins Licht der Ambivalenz getaucht. Von Steinaecker fängt historisch Verbürgtes, Fiktion und Gegenwartswissen zugleich ein und schüttelt es so lange durch, bis es nicht mehr voneinander zu trennen ist. So, und nur so, ist es ihm möglich, sich auf so geschickte wie unterhaltsame Weise von der geschichtlichen Bürde zu befreien. In Benesi findet sich, das bemerkt man schnell, ein Haufen von Verlierern zusammen, die nun, unter dem Schutzmantel des Pioniergeistes, ihren verkorksten Leben eine Wendung zu geben versuchen: Ludwig Gerber, der Verwalter und Chef des Ganzen, ein Holzhändler aus Bayern, hat das Familienerbe in den Sand gesetzt; seine Schwester Käthe ist einem Heiratsschwindler auf den Leim gegangen, hat eine in der feinen Gesellschaft skandalöse Trennung hinter sich und wartet nun nur noch auf das Verblühen ihrer Schönheit; der Arzt Dr. Brückner hält sich mit Hilfe von Opiaten bei erträglichem Bewusstsein, ist aber unfähig, seinen Beruf auszuüben.

„Je näher sie ihrem Ziel kamen“, so heißt es in einer Passage, in der sich Brückner an seine Reise von Deutschland nach Afrika erinnert, „desto befreiter begann er sich zu fühlen. Es war, als löse sich mit jedem zurückgelegten Faden ein Stück seiner Vergangenheit hinter ihm auf und wachse vor ihm eine Zukunft, die er in Form der felsigen Küste Tola-Lands nach gut einem Monat tatsächlich zu sehen meinte.“

Das dürfte der Kern dessen sein, was Thomas von Steinaecker an seinem Stoff gereizt hat: das utopische Potenzial, das sich im Bewusstsein der Figuren mit der Neueroberung eines Kontinents eröffnet. Und dessen allmähliches Verglühen. Doch die konkrete Umsetzung der Vision einer deutschen Siedlung trifft zunächst einmal in Benesi in Form des jungen Architekten Henry Peters, Sohn deutscher Auswanderer aus New York, ein. Peters ist einer der wenigen Überlebenden, die an Bord der gesunkenen „Brünnhilde“ waren, eines Schiffs, das Baumsetzlinge und anderes Material nach Benesi transportieren sollte. Peters Ehefrau stirbt ebenso auf See wie sein Chef, der Architekt Selwin, als der sich Peters nun gegenüber Ludwig Gerber ausgibt, woraufhin dieser Peters prompt mit dem Bau der neuen Siedlerstadt beauftragt.

Allmählich dämmert es den Bewohnern von Benesi, dass ihr Schutzgebiet nicht nur eine wohlbehütete, sondern auch eine von Information abgeschnittene Zone ist: Die Befehlsstrukturen innerhalb der deutschen Kolonialverwaltung sind unklar; die einheimische Bevölkerung beginnt, gegen die brutale Behandlung durch die Besatzer aufzubegehren; die vermeintlich moderne Technik schafft eher Komplikationen denn Erleichterung, und als dann tatsächlich die ersten deutschen Siedler eintreffen, scheren die sich recht wenig um Henry Peters’ kühne architektonische Entwürfe, sondern bauen einfach wild drauflos.

All das erzählt Thomas von Steinaecker aus wechselnden Perspektiven, in denen sich aus einem Gemenge von Technikbesessenheit und Esoterik, Utopismus und Deutschtümelei, Antisemitismus und Herrenmenschentum bereits am Vorabend des Ersten Weltkrieges geistige Tendenzen des Nationalsozialismus ablesen lassen. Das alles ist blendend gemacht und technisch perfekt umgesetzt. Wenn man überhaupt einen Einwand gegen den Schriftsteller Thomas von Steinaecker formulieren wollte, dann ist es der, dass er in seinen bislang drei Romanen stets Themen, aber noch nicht sein Thema gefunden hat; dass er drei Bücher geschrieben hat, ohne dass der Eindruck eines geschlossenen Werkes entstanden wäre. Doch möglicherweise ist genau das der Plan.

Thomas

von Steinaecker: 

Schutzgebiet. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt/Main, 381 Seiten, 19,90 €.

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