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© Kai-Uwe Heinrich

Wagnis Buchhandel: Neuköllner Ladenzeilen

Haben Sie „Tiefgebirge“ von Charlotte Roche? Haben Sie „Nasszelle“ von Charlotte Roche? „Schleimhäute und Mösen“? All das spielt sich ab in einer Buchhandlung im vermeintlichen Lese-Niemandsland, in Berlins Gropiusstadt.

Am weit geöffneten Tor, wo das Kopfsteinpflaster des Grundstücks endet und die Steinplatten des Gehwegs beginnen, streift Nora Raemer, 49, ihrem Hund das Geschirr über. Zwei Verschlüsse sind zu schließen, einer unter dem Hundebauch, einer am Halsband. Dann nimmt sie Leine und Geschirr in die linke Hand und überlässt sich dem Tier, das Lucky heißt.

Lucky führt Nora Raemer eine lange vierspurige Straße entlang. Er geht an ihrer linken Seite, eine halbe Körperlänge voraus. Tauchen Hindernisse auf, wird er langsamer, vor Absätzen hält er kurz, auf Ablenkungen reagiert er nicht. Nora Raemer, die vor zehn Jahren durch eine fortgeschrittene Retinitus pigmentosa endgültig erblindete, will zu Sosch, einem Buchladen – an einen Ort also, der nicht für sie gemacht scheint.

Seit 1985 behauptet sich Sosch im Süden von Berlin, in den Einkaufspassagen der Neuköllner Gropiusstadt, einer grauen Trabantenstadt, 19 000 Wohnungen, schlecht beleumundet: hohe Häuser, bescheidene Aussichten.  In Gropiusstadt wuchs Christiane F. auf, Deutschlands berühmteste Drogenabhängige. Und Teile von Gropiusstadt gehören seit 2005 zu den sozialen Notstandsgebieten der Republik, denen mit Geld und Konzepten geholfen werden soll.  Auch Sosch also ist an einem Ort, an den er anscheinend nicht gehört.

Und doch stehen der Laden und die Blinde für den Sieg des Getanen über das Befürchtete.

Sosch ist in den vergangenen Jahren nämlich derart gewachsen, dass er heute einen Superlativ führt: Er ist mit 620 Quadratmetern Verkaufsfläche der größte inhabergeführte Buchladen Berlins. Der einzige seines Formats, der besteht neben Filialisten wie Thalia und Hugendubel oder dem Kulturkaufhaus des Dussmann-Konzerns. Und der wie diese zum Synonym geworden ist: Man geht zu Thalia, Hugendubel, Dussmann. Und wer im Süden Berlins Bücher braucht, geht zu Sosch.

Das weiß sogar der Hund. „Zu Sosch“, befiehlt Nora Raemer, als die gläsernen Türen des Einkaufscentereingangs hinter ihr zugeglitten sind. Und Lucky steuert direkt zu dem Laden, der zwischen zwei Bekleidungsgeschäften liegt und ebenso wie die keine Türen hat, sondern auf ganzer Front offen ist. Durch Diebstahlsicherungsschleusen hindurch und hinein.

Nora Raemer trägt eine schmale Brille mit orange getönten Gläsern. Die fangen schädliche Strahlen ab. Die Augen, erloschen durch die Krankheit, schützen sich nicht mehr selbst. Dass Nora Raemer blind ist, sieht man nicht. Auch nicht an ihren Bewegungen, die nicht zögernd sind, sondern zügig. Der Hund wird sie führen, niemand sie schubsen. Darauf vertraut sie. Das ist das Entscheidende.

Ohne Vertrauen käme Nora Raemer nicht mehr aus dem Bett. Und ohne Vertrauen würde es auch Sosch nicht geben. Weil seine Gründerin, die Wienerin Sonja Schwestka, gar nicht erst nach Berlin gekommen, nicht in den Buchhandel eingestiegen und nicht zur Unternehmerin geworden wäre. Und beiden gibt das Vertrauenhaben längst recht: Raemer geht nicht nur genauso schnell spazieren wie Sehende, sie hat auch gerade ihr Grundstudium in Theologie an der Humboldt-Universität absolviert. Und Schwestkas Schnapsidee von damals macht heute 3,5 Millionen Euro Umsatz im Jahr.

Es ist gegen Mittag, das Einkaufszentrum ist voll, vor allem Jugendliche sind unterwegs auf den überdachten Wegen, die von Laden zu Laden führen, manche von ihnen bleiben bis spät. Sie unterhalten sich, schlendern, schauen, telefonieren. Auch zu Sosch kommen sie immer wieder herein.

„Es ist gut, dass die da sind“, sagt Nora Raemer über Sosch. Weil die einen Anspruch hochhalten. Zwar werde auch in einem Buchladen in erster Linie verkauft. Aber eben etwas, das Fantasie anregt, das bildet, das für den Geist da ist. Dass auch dies zum Leben gehöre, sagt Nora Raemer, beweise Sosch mit seiner gleich großen Existenz inmitten der lauten, bunten Mode-, Glitter- oder Schuhgeschäfte.

Es läuft keine Musik bei Sosch, kein Radio, der dunkelgraue Robustteppich schluckt viele Geräusche. Und in den hellbeigen Regalen hocken, Versprechen gleich, die Bücher. 18 500 verschiedene Titel, 60 000 Exemplare sind am Lager. Romane, Krimis, Comics. Koch- und Sachbücher. Hörbücher. Fantasy- und Jugendbücher. Kinderbücher. Schulbücher, jede Menge, die sind ein großes Geschäft in dieser Gegend. Auf der Treppe, die hochführt zu den Reiseführern und Nachschlagewerken, sitzt ein junges Mädchen und liest einen Manga-Comic, die liest man von hinten nach vorne.

In ihrer schmucklosen Freundlichkeit erinnert die Buchhandlung an eine gemütliche Tante, die sich auf dem Sofa eingenistet hat. Die immer da ist, immer dicker wird, für jeden einen netten Satz parat hat, aber auch schon allein durch ihre bloße Anwesenheit einen, wie Nora Raemer es genannt hat, Anspruch formuliert. Bücher lesen, das ist Kultur, das ist Muße oder Bildungwunsch. Und die Tante, umgekehrt, hängt auch an ihren Kunden. Hat sich Eigenheiten gemerkt und Geschmäcker, hat – wie Eltern es tun mit den Niedlichkeiten ihrer Kinder – lustige Begebenheiten aufgeschrieben. Auszüge aus den Notizen:

Januar 2005: Kunde sucht „Genitiv sucht Infinitiv“.

März 2005: „Wenn der Genitiv mit dem Imperativ“.

Mai 2005: „Der Dativ ist dein Feind“.

Dezember 2005: „Der Dativ ist dem Genitiv sein Sohn“.

Juni 2005: Kundin möchte Buch abholen: „Irrungen, Wirrungen“ oder so ähnlich, Autor weiß sie nicht mehr. Tatsächlich abgeholt hat sie dann „Bianca – Raffinierte Intrigantin“.

März 2008: „Ich hätte gerne Band 101 von Harry Potter.“

März 2008: „Haben Sie das Buch ,Tiefgebirge’ von Charlotte Roche?“

März 2008: „Haben Sie ,Nasszelle’ von Charlotte Roche?“

Juni 2008: Kunde reicht wortlos einen Zettel rüber: „Charl. Roche: Schleimhäute und Mösen“.

Juli 2008: „Ich hätte gern ein Schulbuch, nein, Nummer weiß ich nicht, und wie es heißt auch nicht, ich weiß nur, wie es aussieht.“

So etwas sammeln die Buchhändler auf einer Liste, die „Kuriositäten“ heißt.

Sigrid Heinze ist von Anfang an dabei, seit mehr als 20 Jahren arbeitet sie bei Sosch. Es habe einfach nie einen Grund gegeben, woanders hinzuwechseln. Sie erzählt von Kunden, die heute Mitte 20 sind, die früher auf ihren Knien saßen und sich Bilderbücher zeigen ließen. Sigrid Heinze lacht laut. Sie ist eine quirlige Norddeutsche mit einer zauseligen Frisur und einer Vorliebe für bunte Pullover. Man lerne die Kunden ja langsam kennen, merke sich Gesichter, Geschmäcker. Und wenn sie ein Buch empfehle, frage sie später oft, ob es gefallen habe. Dabei ergeben sich Gespräche, so kommt man sich näher.

An freundlichen Gesten ist die Beziehung reich zwischen Sosch und den Stammkunden, die meist Kundinnen sind und 50 plus. Die einen haben die Buchhandlung in ihr Telefon eingespeichert, und zwar unter S wie Sosch. Die anderen kommen regelmäßig und erzählen von den gelesenen Büchern. Sie sagen: Wir fühlen uns gut beraten, wir fühlen uns hier gut aufgehoben. Die wollen nicht nur ein Buch verkaufen, zack, Kasse machen, die wollen wirklich, dass es mir gefällt.

Die Verkäufer und die Kunden sind ja über all die Jahre auch zusammen älter geworden. Es kamen Kinder zur Welt, Angehörige verstarben, einmal ein Kollege. Man hat davon oft gewusst und Anteil genommen.

„Ich bin hier schon hingegangen, als ich noch sehen konnte“, sagt Nora Raemer, da waren ihre vier Söhne noch klein, da konnte sie noch selbst lesen, „dann kam ich mit Lesegerät, dann mit Blindenstock, und jetzt mit Lucky.“ Sie habe nie jemandem gesagt, was los sei, aber die 20 Mitarbeiter hätten das auch so mitbekommen.

Es ist dem Laden gelungen, eine Grenze zu wahren. Obwohl auf Supermarktgröße angewachsen, ist er nicht zum anonymen Warenanbieter geworden, sondern vertrautes Gesicht geblieben.

Angefangen hat Sosch auf 36 Quadratmetern, bohnenstangenschmal und hochgeschossen, als wahnwitzige Idee einer jungen Frau, da war die Ladenzeile in der Gropiusstadt noch nicht mal überdacht. Anfangs haben sie bei gutem Wetter Pappkartons mit Büchern rausgestellt, um Kunden anzulocken.

„Unglaublich, wie man mal Geld verdient hat“, sagt Sonja Schwestka, die Wienerin, heute 50 Jahre alt. Sie hat eine blond gesträhnte Kurzhaarfrisur, sie war auch schon dunkel und rothaarig, sie sagt, mit Haarfarben sei sie flexibel, und sie hat einen spöttischen Blick. Sie sitzt in ihrem kleinen, schmucklosen Büro, eine halbe Treppe hoch über dem Buchladen, durch schmale Fenster kann sie den Betrieb beobachten und der sie. Sie sei kein Zahlenmensch, sagt sie. Sie habe eher ein Gefühl dafür, ob etwas stimmt oder nicht. Und dem traut sie dann.

Der Liebe wegen war sie Mitte der 80er Jahre, damals Studentin, nach Berlin gezogen. Nach Zehlendorf, die Wohlstandsoase im Grünen, wo ihr Freund lebte, ein gestandener Mann und Steuerberater. Sie ließ dafür die Aussieht auf eine wissenschaftliche Karriere hinter sich und beschied sich erst mal mit einem Praktikum in einer Stadtbibliothek. Und merkte genau da, was sie nur noch machen wollte: mit Büchern handeln.

Von der fremden Stadt, in der sie nun lebte, damals noch eine geteilte, hängte sie sich einen Plan an die Wand, und markierte alle Orte, an denen es bereits Buchhandlungen gab. Eine Gegend blieb unperforiert. Der Süden von Neukölln.

Sie fuhr hin, sah sich um. Natürlich war die Gropiusstadt nicht sonderlich einladend. Und ja, zwei Banken rieten ab, und der Vermieter einer Ladenfläche ließ sich von seiner Sekretärin verleugnen, weil ihm für einen so unsinnigen Plan seine Zeit zu kostbar war. Aber Sonja Schwestka blieb bei ihrem Gefühl: knapp 19 000 Haushalte der neuen Gropiusstadt. „Die konnten doch nicht alle zu doof für ein Buch sein.“ Sie lacht, wenn sie die alten Geschichten erzählt, als sei es doch wirklich ein Ding, wie sich alles gefügt hat. Den Mietvertrag bekam sie dann erst, als ihr Freund, der heute ihr Ehemann ist und Mitgesellschafter, den Vermieter sprechen wollte. Und angefangen hat sie mit dem billigsten Steckregalsystem, das sich finden ließ. Und dann war sie am 18.  November 1985 fertig. Öffnete um 8 Uhr 30. Und verkaufte um 8 Uhr 51 ihr erstes Buch. Die „Schwarzwaldklinik“. Die Kundin hat ihr den Kassenbeleg gerahmt und zum einjährigen Bestehen geschenkt.

Dreimal hat sich Sosch seitdem vergrößert. 1991 auf 108 Quadratmeter, weil 36 einfach nicht mehr gingen; dann 1996 auf 300 Quadratmeter und 1999 auf 620.

Zu Sosch III und Sosch IV, wie Sonja Schwestka ihre Vergrößerungsstufen nennt, hat das Centermanagement sie genötigt. Aus der Ladenzeile von anfangs war in der Zwischenzeit nämlich ein riesiges Shoppingcenter geworden, mit zwei Supermärkten, H & M, Pimkie, Peek & Cloppenburg, Görtz-Schuhgeschäft und Multiplex-Kino, das größte von Berlin, die wollten keinen Minibuchladen in ihrer Mitte, sondern etwas Gleichwertiges. Entweder wachsen, sagte man Sonja Schwestka, oder raus.

Sie hatte Angst vor diesen Dimensionen, diesen Zahlen, aber sie beugte sich dem Druck. Zu meinem Glück, sagt sie heute. Der Umsatz nämlich wuchs mit, wuchs sogar noch viel mehr.

Nora Raemer ist angesprochen worden. „Kann ich Ihnen helfen?“ Sie fragt nach einem Buch, ein Geschenk für einen ihrer vier Söhne, der Buchhändler will es holen.

„Hallo, Frau Raemer“, eine Sosch-Mitarbeiterin eilt vorbei, die Anfrage einer anderen Kundin bearbeitend.

Nora Raemer bekommt ihr Buch gereicht. Sie greift nach dem Geschirr ihres Hundes, der sich zu ihren Füßen auf den Teppich gelegt hat. Lucky steht auf. „Lucky, zur Kasse“, sagt sie. Und Lucky weiß Bescheid.

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