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Szene aus „Green Border“ von Agnieszka Holland.

© Agata Kubis

Politisches Kino beim Filmfest Venedig: Grenzen der Menschlichkeit

Filme aus dem Iran und Agnieszka Hollands „Green Border“ bringen die politische Gegenwart auf die Agenda des 80. Filmfestivals Venedig.

Füße, Rücken, Hinterköpfe. Mehr ist in diesem heimlich gedrehten Film von der Teheraner Theaterkompagnie nicht zu sehen. Sie proben ein Lysistrata-Stück und beziehen die Proteste auf den Straßen mit ein, auch deren gewaltsame Niederschlagung.

Frauen, die sich den kriegführenden Männern verweigern: Das antike Aristophanes-Drama ist hochaktuell im Iran, spätestens seit dem gewaltsamen Tod von Jina Masha Amini am 16. September vor einem Jahr. Aber was vermag die Kunst angesichts der Revolte und der Brutalität eines Regimes? Gehen wir raus, fragen sich die Theaterleute, oder proben wir die Revolution nur, in unserem mit blickdichten Vorhängen geschützten Workshop? Und was will der aus dem Ausland angereiste Filmemacher eigentlich hier, dieser Revolutions-Tourist? Der Streit im Probenraum spitzt sich zu.

Sein Dokumentarfilm „The Sun Will Rise“ sei die Folge eines Schuldgefühls, sagt der in Berlin lebende iranische Regisseur Ayat Najafi („Football Under Cover“) beim Filmfest Venedig. Wie hatte er nur auf die Idee kommen können, für sein erstes iranisches Filmprojekt nach neun Jahren dort um offizielle Erlaubnis zu bitten? Die Behörden lehnten es ab, Najafi blieb trotzdem und realisierte nach Aminis Tod den jetzigen, undercover entstandenen Film.

„Ich sitze zu Gericht über mich selbst“, sagt Najafi, dessen Film die Nebenreihe „Giornate degli Autori“ eröffnete. Mit der zensurbedingten Fragmentierung der Körper lenkt die Kamera das Augenmerk auf die Körper der Freiheitskämpfer:innen, auf ihre furchtlose Weigerung, sie zu verhüllen, und auf ihre Furcht vor den Folgen. Zugleich hinterfragt sie die eigene Position.  

Szene aus der iranisch-israelischen Produktion „Tatami“, mit Zar Amir Ebrahimi (l.) und Arienne Mandi.
Szene aus der iranisch-israelischen Produktion „Tatami“, mit Zar Amir Ebrahimi (l.) und Arienne Mandi.

© JUD

Was lässt sich erzählen vom Unrecht, ohne die Opfer zu Schauwertzwecken auszubeuten? Wie lässt sich der Falle des Zuschauer-Tourismus entgehen? Was also vermag das Kino über die Solidarität aus sicherem Abstand hinaus, was vermag ein Festival außer öffentlichkeitswirksamen Gesten wie dem Iran-Flashmob auf dem roten Teppich am Wochenende oder einem wie im Vorjahr anberaumten Ukraine-Tag?  

Es kann einen hineinversetzen in die Lage derer, die sonst unsichtbar sind, in deren Dilemmata, deren Kampf, deren Schmerz. Empathie als Erfahrung von physischer Intensität: „Tatami“, zu sehen in der Reihe „Orizzonti“, folgt einer iranischen Judoka und ihrer Trainerin Maryam (Zar Amir Ebrahimi) zu den Weltmeisterschaften nach Tiflis. Die aussichtsreiche Titelanwärterin Leila (Arienne Mandi) wird gemeinsam mit Maryam vom iranischen Sportverband unter Druck gesetzt: Sie soll eine Verletzung vortäuschen, um nicht zu riskieren, im Finale auf die andere Favoritin aus Israel zu treffen.

Die Kamera in diesem Schwarz-Weiß-Film kämpft mit auf den Matten, steckt die Schläge mit ein, als die Frauen zunehmend bedroht werden, auch deren Familien in Teheran. Ebrahimi (die für „Holy Spider“ den Cannes-Darstellerinnenpreis gewann) lebt im Exil, in der ersten iranisch-israelischen Koproduktion führt sie erstmals auch selbst Regie, zusammen mit dem Israeli Guy Nattiv. Gold oder Gehorsam, Exil oder die Sicherheit der Familie: „Tatami“ macht Leilas und Maryams heillosen Konflikt körperlich nachvollziehbar.

Auch die polnische Regisseurin Agnieszka Holland geht mit dem Kino hart ins Gericht. „Das Kino kümmert sich nicht mehr genug um die Welt von heute, das tun zurzeit eher die Serien“, sagt sie bei der Pressekonferenz zu ihrem Wettbewerbsfilm „Green Border“. Mit ihrem Auftritt und ihrem Film bei der 80. Mostra d’arte cinematografica am Lido wird das Festival plötzlich eminent politisch – nachdem sich Wettbewerbsfilme wie „Ferrari“, „Maestro“ oder „Priscilla“ bisher vor allem mit den Nöten der Reichen, Schönen und Berühmten befasst hat.

Jurymitglied Jane Campion (r.) und Festivalchef Alberto Barbera (M.) beim Flashmob aus Solidarität mit der iranischen Protestbewegung am Samstag auf dem Filmfest Venedig.
Jurymitglied Jane Campion (r.) und Festivalchef Alberto Barbera (M.) beim Flashmob aus Solidarität mit der iranischen Protestbewegung am Samstag auf dem Filmfest Venedig.

© imago/Dave Bedrosian

Ihr episches Flüchtlingsdrama, auch das in Schwarz-Weiß, zeigt die Brutalität der Pushbacks an der polnisch-belarussischen Stacheldrahtgrenze im unwegsamen Wald- und Sumpfgebiet aus verschiedenen Blickwinkeln: dem einer syrischen Familie, eines polnischen Grenzpolizisten, einer Gruppe von Menschenrechtsaktivist:innen und einer Psychologin, die in ihrem Homeoffice nahe der Grenze in die Hilfsaktionen involviert wird.

„Green Border“ führt Europas Unmenschlichkeit und Ignoranz vor Augen. Aber eben auch jene Menschen, die ihrer Geiselnahme in einer perfiden Außenpolitik des Belarus-Machthabers Lukaschenko hilflos ausgeliefert sind. Und jene, die trotz aller Risiken Leben zur retten versuchen, oder die wenigstens von Skrupeln heimgesucht werden – oder die Courage zur Hilfe nicht aufbringen. Zu ihnen allen stellt Holland in „Green Border“ Nähe her.

Im Mittelmeer und an den grünen Grenzen Europas starben seit 2015 etwa 30.000 Geflüchtete, heißt es im Abspann. Und dass alleine Polen zwei Millionen Ukrainer:innen aufgenommen hat. Europa hat die Wahl, besagt Agnieszka Hollands Film. Oft herrscht finstere Nacht in den Bildern, die von Zorn und Verzweiflung getränkt sind.

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