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Wo einst die Gerste gärte. Urs Jaeggis Ausstellung in der Malzfabrik.

© Malzfabrik

Retrospektive Urs Jaeggi: Keimzellen der Kunst

Der Schweizer Künstler Urs Jaeggi stellt in der Malzfabrik aus. Zur Kunst geht es treppauf, treppab und über Emporen.

Vielleicht liegt es an den Hallen, dass Urs Jaeggis Retrospektive in der Schöneberger Malzfabrik leicht beängstigend wirkt. Über Stahltreppen führt der Weg über Emporen entlang riesiger Säle, in denen einmal Flüssiges gelagert haben muss. Jetzt aber befinden sich hier Fotos, Gemälde und Plastiken. Die Hallen dienten früher als Keimzellen, in denen Gerste gärte. Vielleicht rührt der mulmige Eindruck aber auch daher, dass der Besucher ganz allein mit der Kunst ist. Keine Aufsicht wacht an diesem Nachmittag darüber, ob alles mit rechten Dingen zugeht. Noch nicht einmal Schilder mit Erläuterungen hängen aus, nur kopierte, von der Feuchtigkeit gewellte Zettel informieren über die Preise der Arbeiten.

Selbstverständlich weiß Urs Jaeggi, dass Ausstellungen in der Regel disziplinierter aussehen. Der Berliner Schriftsteller, Dichter, Bachmann-Preisträger und ehemalige Soziologieprofessor, 1931 im Schweizer Solothurn geboren, arbeitet seit drei Jahrzehnten als bildender Künstler. Die Baseler Galerie Marianne Grob vertritt ihn. Auch die Malzfabrik kennt er gut. Vor fünf Jahren, zu seinem 80. Geburtstag, stellte er schon einmal hier aus.

Chronologie im Parcours

Der vermeintliche Dilettantismus ist also Konzept: Wiederholtes Beginnen und Unsicherheit zählen dazu, ebenso Konventionen zu unterlaufen, die das Denken erlahmen lassen. Die Situationisten und Fluxus lassen grüßen. Dies bedacht, gibt der Parcours allmählich eine Chronologie preis. Von kleinen Strichzeichnungen über Plastiken aus Alteisen zu großen Fotogrammen. Von Fensterrahmen mit zerbrochenem Glas, die an der Wand lehnen, zu zerborstenen Fenstern auf riesigen Fotoausdrucken. Von Lyrik auf weißen Tafeln zu zehn Toilettenschüsseln, aus denen eine Männerstimme durch den Nachhall des Saals kaum unterscheidbare Worte spricht.

„auf der flucht“ heißt eines der Gedichte, und es endet: „die welt ein wrack/ und die frühlinge/ die immer wieder angesagte/ revolution?“ Die plakativen Zeilen bringen auf den Punkt, was die Ausstellung ausstrahlt – umso mehr, je jünger die Arbeiten sind: ein Unbehagen an der Welt, in der das „Problem der sozialen Macht“ (Jaeggi 1960) noch immer nicht gelöst ist. Das passt zum Unbehagen, das auch die alte Fabrik auslöst. Urs Jaeggi und sein Kurator, der Publizist Rolf Külz-Mackenzie, vertrauen allerdings darauf, dass die Besucher den Ehrgeiz aufbringen, ohne museumspädagogische Hilfestellung die Hunderte von Metern durch die Keimzellen zu wandern. Wie das auf den Besucher wirkt, hängt wohl ganz von dessen Alter, Kunst- und Trittfestigkeit ab: vielleicht rücksichtslos, vielleicht naiv, vielleicht mutig und kompromisslos.

Malzfabrik, Bessemerstr. 1-14, bis 25. September; Mi bis Fr 15 – 19, Sa / So 13-18 Uhr

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