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Kultur: Ruinenkunde für Träumer

Zum 70. Geburtstag des Dichters und Grafikers Christoph Meckel

Ein Lieblingsbild des Dichters und Zeichners Christoph Meckel zeigt einen verwundeten Engel. Es ist keine Lichtgestalt, sondern ein erbarmungswürdiges Wesen mit verletztem Flügel, das von zwei Jungen auf hölzernen Stangen getragen wird. Dieser Engel, den der Finne Hugo Simberg gemalt hat, könnte auch ein Protagonist in Meckels jüngsten Erzählungen sein. Denn Meckels Helden sind an einem menschheitlichen Endpunkt angekommen. Die Zivilisation hat abgedankt, die Überlebenden eines Weltbürgerkriegs irren durch die letzten Refugien des Lebendigen. Marodeure und Söldnerbanden streifen durch den Schutt der Städte .

Schon in seinem Frühwerk „Im Land der Umbranauten“ (1961) hatte Meckel einen despotischen Klassenstaat erfunden, eine „Weltmacht der Dämmerung“, der nur mit Hilfe eines Märchenerzählers zu entkommen ist. In seinen Texten finden sich seither immer wieder Traumgeschöpfe, Vagabunden oder Weltenfahrer, die den Lauf der Geschichte aufzuhalten trachten. Als Kind hat der 1935 in Berlin geborene Meckel die Zerstörung seiner Kindheitsstadt Freiburg erlebt, eine Urszene, die sich in die Szenarien seiner Erzählungen eingeschrieben hat. Zugleich mit seiner Arbeit als Schriftsteller begann er 1957 in Berlin mit seinem grafischen Opus magnum, der „Weltkomödie“, einer surrealen Welt aus Radierungen, die mittlerweile über 1800 Blätter umfasst.

Im neuen Band „Einer bleibt übrig, damit er berichte“ (Sieben Erzählungen und ein Epilog. Hanser Verlag, München, 270 Seiten, 19,90 €), der Texte aus den letzten 13 Jahren bündelt, behaupten sich Heilswünsche noch in der Katastrophe. Der Spezialist einer obskuren Eingreiftruppe agiert etwa in der Erzählung „Abraum“ als williger Vollstrecker bei planetarischen Säuberungsaktionen – und versucht am Ende eine verwundete Frau zu befreien. Der Schlaf der Vernunft gebiert bei Meckel eben auch Figuren der Rettung. So tauchen aus dem Qualm der Metropolen, aus den „Massengräbern im Großen Schutt“ immer wieder Frauengestalten auf, die Aufbruch verheißen. Gegen den Kosmos von „Babylon-City“ setzte der Autor von seinem ersten Buch an, dem Gedichtband „Tarnkappe“ (1956), zauberische, manchmal allzu schwelgerische Bilder von Liebe und Utopie.

Der Sohn des Schriftstellers Eberhard Meckel, der seinem Vater 1980 das grandiose Romanporträt „Suchbild“ widmete, gilt als „sinnenreicher Fantast“, was nicht immer als Kompliment gemeint ist. In „Nachtmantel“, einer der schönsten Erzählungen des neuen Buches, verlässt ein Mann seine Berliner Behausung, um zu sterben. In hypnotischer Selbstbetäubung begibt er sich auf Fahrt durch eine „wesenlose“ Welt und landet an einer Küste vor einem Findling aus den Tiefen des Meeres. Der Koloss entpuppt sich als schauderhaftes Lebewesen, das nach einer Attacke von Terroristen fürchterliche Gifte verströmt. In der Vorliebe für unheimliche Fantastik verteidigt Meckel, der heute 70 Jahre alt wird, „das Recht zu träumen“. Der verstörenden Wirkung seiner Geschichten mit ihren Übergängen zwischen halluzinatorischem und realistischem Erzählen tut dies keinen Abbruch.

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