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Kultur: Somnambul Xaver Bayer erzählt von

einem Flughafen-Wanderer

Im Zeitalter der Mobilität bewegen wir uns unablässig durch Wartezonen, Lounges, Aufzüge, Sicherheitsschleusen, Flughafenhallen. Die namenlose Ich-Figur in der neuen Erzählung des österreichischen Schriftstellers Xaver Bayer ist ein Dauerpassagier an jenen „Orten ohne Selbst“ (Peter Sloterdijk), wo die Identität sich auflöst. Das darf man als existenziellen Habitus von Bayers Helden beschreiben: Sobald sie ihre beruflichen Automatismen abrufen wollen, gerät ihr bürgerliches Dasein aus den Fugen. Dieser Autor ist ein Experte in der Erzeugung metaphysischer Schwindelgefühle, was er schon in drei großartigen Romanen demonstrierte.

Ein Mann durchquert das Areal eines Flughafens, ein grüblerischer Müßiggänger, der nur darauf aus ist, die Wartezeit bis zu seinem Weiterflug zu überbrücken. Zunächst gelingen ihm noch die üblichen Zerstreuungen: Er streunt entlang an Duty-free-Shops, Airportbars und Bierstuben, lässt sich von Rolltreppen auf verschiedene Ebenen tragen, inspiziert Flughafenkapelle und Gebetsräume. Es dauert nicht lange, und er gerät durch sich kompliziert verzweigende Wahrnehmungen und Assoziationsströme aus der Bahn. Durch das Gedankenchaos vergeht ihm buchstäblich Hören und Sehen.

Das beklemmende Gefühl der Unwirklichkeit wird durch seine Passion fürs Fotografieren noch verstärkt. Der Held, dem „das normale Schauen auf die Realität auf unheimliche Weise abhanden gekommen zu sein scheint“, leidet unter der Agonie des Realen. So wird er immer mehr von seinen Wahrnehmungsempfindlichkeiten und somnambulen Entrückungen aufgesogen. Der Reisende hat sich plötzlich in einem metaphysischen Niemandsland verirrt - und sucht verzweifelt einen Weg ins Offene.

Xaver Bayer hat eine Versuchsanordnung entworfen, die in vielem an die Wahrnehmungsmanien des frühen Peter Handke, aber auch an die labyrinthischen Obsessionen von W. G. Sebald erinnert. Die Intensitäten des Schauens, die mit Bedeutungswut aufgeladenen Impressionen, treiben den Helden in fast halluzinatorische Bewusstseinszustände, die seine Weltordnung schließlich zerreißen.

Bayer hat den Gedankenfluss seines Helden in einen einzigen Satz integriert, der sich über 120 Seiten erstreckt. Dieses Verfahren ist schon mehrfach von Bayers älterem Kollegen Friedrich Christian Delius erprobt worden – freilich mit größerem dramaturgischen Geschick. In Bayers Prosa wirkt dieses Ein-Satz-Geflecht etwas bemüht, wie überhaupt die sensualistische Überempfindlichkeit des Helden dem Text plakativ eintätowiert scheint. Dennoch folgt man gebannt den Streifzügen von Bayers Helden. Der verstörte Reisende taumelt durch eine leere Welt: Von seiner „unendlichen Entfernung zum Sein“ erlöst uns keine Sinngebung. Michael Braun

Xaver Bayer: Wenn die Kinder Steine ins Wasser werfen. Erzählung. Jung und Jung, Salzburg 2011. 120 Seiten, 16,80 €.

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