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Das Netzwerk Facebook ist für viele Menschen eine wichtige Infoquelle.

© dpa/Stephan Jansen

Ukrainisches Kriegstagebuch (120): Die Parallelwelten von Facebook 

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

21.3.2023
„Echt, Du bist wirklich nicht auf Facebook?’“, wunderte sich die tschechische Filmregisseurin auf einer Party in Prag, wo ich aufgelegt habe. Ich wusste nicht, wovon sie spricht, und erst Wochen später fand ich in meinen Mails die Einladung, ein Facebook-Konto zu eröffnen. Ich habe sie angenommen – und war überrascht, wie viele Freunde und Bekannte von mir schon da waren.

Eine tolle Art, im Kontakt zu bleiben und auch um gelegentlich zu schauen, was bei wem so los ist, dachte ich. Außerdem konnte man seinen Lieblingskünstler*innen folgen, und, noch besser, selbst in wenigen Schritten eine Seite erstellen und mit eigenen Followern direkt kommunizieren, ohne Webdesign lernen zu müssen.

Ein paar Jahre später, in den Tagen der Maidan-Revolution wurde Facebook für mich zum Ersatz eines Nachrichtenportals. Ich folgte meinen Freunde in Kiew, Charkiw und anderen Städten der Ukraine – auch wenn ihre Meldungen oft chaotisch waren, verschafften sie mir ein klareres Bild, als die News, die oft entweder nicht mit den aktuellen Ereignissen Schritt hielten oder versuchten, Bilder und Informationen zu manipulieren.

Gil-Scott Heron hat bestimmt nicht Facebook gemeint, als er dieses Gedicht 1970 schrieb, ich musste aber trotzdem oft an seine Zeilen denken: „The revolution will not be televised, the revolution will be live“.

In den Monaten seit dem 24. Februar 2022 ist mein Facebook-Feed zum Live-Ticker des erweiterten Angriffskrieges russlands in meiner Heimat geworden. Es ist schwer, ihn zu lesen – und unmöglich, nicht zu lesen. Regelmäßig tauchen dort auch die Posts meiner nicht-ukrainischen Freunde auf. Der Kontrast ist oft frappierend.

Tetiana aus Kiew, die ich vor Jahren abonniert habe, nachdem sie eine witzige Besprechung einer alten Talking Heads’ Platte postete, berichtet heute von ihrem Gespräch mit einem Barista in einem Kiewer Café. Der 20-Jährige ist in der ukrainischen Hauptstadt geboren und aufgewachsen, hat aber einen russischen Pass. Sein Vater, ein russischer Staatsbürger, kehrte vor einem Jahr nach Moskau zurück.

Heute, erzählte der Barista, hat er mit dem Vater telefoniert. Wenige Minuten vor ihrem Gespräch kam die Nachricht vom brutalen Raketenangriff auf ein Wohnhaus in Saporischschja. „Noch bisschen Geduld, Söhnchen,“ meinte der Vater, „dann befreien wir Euch endlich“. Der Sohn legte auf und löschte Vaters Telefonnummer. „Ich will ihn nie wieder sprechen“, sagte er.

Peter aus Hamburg regt sich über die Deutsche Bahn auf – der Zug kam nicht, kein Schienenersatzverkehr.

Auf den Fotos von Olia aus Winnyzja, die ich vor zwei Jahren nach dem Konzert mit Wladimir Kaminer und Serhij Zhadan auf der Kiewer Buchmesse kennenlernte, sieht man sie und einen jungen Mann mit einem gepflegten dreieckigen Bart, beide strahlend, auf dem rechten Bild küsst er sie auf die Wange. „Verdammt ironisch, das“, schreibt sie darunter, „wir hätten doch nächsten Samstag heiraten sollen – und da kommt die Nachricht von Deinem Kommandeur. Ich will es nicht glauben! ES. KANN. NICHT. WAHR. SEIN.”

„Er ist da! Wir haben ihn!!!“, schreibt Olexij, ein Charkiwer Musiker, bei dem ich mit 15 zum ersten Mal Bob Marley gehört habe. In den Kommentaren steht, dass Olexijs Sohn in einem Keller bei Bachmut gefunden wurde. 42 Tage war er in russischer Gefangenschaft, diese ganze Zeit lag er neben seinen toten und verwundeten Kameraden, ohne Essen und Wasser. Er trank aus den Pfützen.

Von meinen russischen Freunden ist auf Facebook nur eine Handvoll geblieben. Das sind Menschen, die ich persönlich kenne, wie zum Beispiel Galia aus Moskau, eine Sängerin. Seit Kurzem ist sie Instagram-Influencerin und befindet sich gerade mit ihrem Freund in Indien. Im aktuellen Post schwärmt sie von ihren neuen Sandalen. „Mädels, das werdet Ihr nicht glauben! Handarbeit – und nur 330 Rubel! Ich drehe durch!“

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