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Die Gruppe Dschinghis Khan bei einem TV-Auftritt im Jahr 1979.

© IMAGO/United Archives/ Fred Lindinger

Ukrainisches Kriegstagebuch (199): Wirf die Gläser an die Wand

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

6.4.2024
Heute ist einer der ersten richtig warmen Frühlingstage. Die Sonne strahlt und alle strömen nach draußen, stelle ich fest, als ich einkaufen gehe. Plötzlich höre ich jemanden meinen Namen rufen: "Priwjet, Yuriy!" Als ich mich umdrehe, sehe ich einen großen Mann mit Baseballkappe, grauschwarzem Bart und Hornbrille.

„Hejjjjjj ....“ Mein "J" hallt wider, während ich fieberhaft versuche, mich an den Namen zu erinnern. Detlef? Dieter? Dietmar!

Wir haben uns bestimmt zwölf Jahre nicht gesehen, vielleicht sogar länger. Dietmar war ein Stammgast auf unseren Partys im Kaffee Burger in den frühen 2000ern. Ab und zu rauchten wir nebeneinander vor der Tür oder tranken einen Schnaps an der Bar. Wahrscheinlich aus Nostalgie – Dietmar hatte in den Achtzigern in Moskau studiert – wünschte er sich einmal bei den DJs „Moskau“ von Dschinghis Khan, warf beim Tanzen sein Glas an die Wand und wurde vom Türsteher rausgeschmissen.

Ich antworte auf Deutsch, doch Dietmar möchte offensichtlich russisch mit mir reden. Ich gestehe ihm mein Dilemma mit der Muttersprache. Es begann 2014, als russland die Krim annektierte und der Krieg im Donbass ausbrach.

Einstige Indie-Bands spielten plötzlich für russische Soldaten

Die massive antiukrainische Propaganda und die Äußerungen russischer Intellektueller zu diesem Thema haben mich zutiefst schockiert, erzähle ich Dietmar. Plötzlich verbreiteten Musiker*innen, deren Lieder ich seit meiner Kindheit kannte, und Regisseur*innen sowie Schauspieler*innen, deren Filme ich gut kannte, absurden und beleidigenden Unsinn.

Eine entzückende Schriftstellerin – möglicherweise würde Dietmar sie sogar kennen, da sie, wie er, in der Stargarder Straße lebte, verkündete auf Facebook: „JUBEL!!! DIE KRIM IST RUSSISCH! Ich habe lange nicht mehr für den Sieg Russlands gejubelt, für den Sieg unseres Vaterlandes!!!“.

Diesen Beitrag teilte ein bekannter russischer Autor auf seinem Profil, der kurz darauf ein eigenes Bataillon in der selbsternannten Donezker Volksrepublik gründete. 2019 gestand er in einem Videointerview: „Ich leitete eine Einheit, die massenhaft Menschen tötete. Kaum ein anderes Donezker Bataillon ist in dieser Hinsicht mit unserem zu vergleichen, bei uns herrschte absolute Gesetzlosigkeit.“

Einige der Bands, die ich früher auf meinen Partys spielte, tourten auf der Krim und gaben Konzerte im Donbass, um den Kampfgeist der russischen Soldaten zu stärken. Ich frage Dietmar, ob er davon gehört hat. Einst als Indie-Bands betrachtet, wurden sie durch solche Aktionen oft in die russischen Nachrichten und in den Mainstream katapultiert. Der pathetische Ton, mit dem diese Reisen in die besetzten Gebiete kommentiert wurden, erinnerte mich stark an den Stil der Sowjetzeitungen Anfang der achtziger Jahre.

„Dietmar“, sage ich, „ich dachte immer, spätestens nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion würden wir diese beschissene Zeit hassen und davon träumen, sie hinter uns zu lassen. Aber der Geschichtszug mit russland an Bord hat abgekuppelt, die Richtung gewechselt und rast zurück in die Vergangenheit!“.

Zerstörung im Donbass

„Ist Dir aufgefallen“, frage ich Dietmar, „wie bemerkenswert einig sich die Medien und die meisten Kulturschaffenden in Russland über diesen Krieg sind? Es heißt, Ukrainer und russen seien schon immer Brudervölker gewesen und was gerade passiert, sei eine spezielle Militäroperation zur Befreiung der Ukraine.

Wie diese brüderliche Befreiung wirklich aussieht, habe ich schon im Herbst 2020 im Donbass mit eigenen Augen gesehen, erzähle ich, sie glich eher einer totalen Zerstörung.

„Ich möchte mit diesen Brüdern so wenig wie möglich gemeinsam haben“, sage ich zum verblüfften Dietmar. „Wenn du protestierst und meinst, man könne ihnen nicht einfach die russische Sprache und die große russische Kultur überlassen, dann sage ich – doch, kein Problem! Ich will ihre Bücher, ihre Filme, ihre Lieder nicht! Die haben mir nichts mehr zu sagen!“

Vielleicht bin ich lauter geworden, als ich hätte sein sollen. Während meines Monologs wird Dietmar erst blass, dann rot, dann wieder blass. Ich hätte noch lange reden können, aber sein Handy klingelt und ich sehe die Erleichterung in seinen Augen. „Ich muss rangehen“, sagt er, ohne aufs Display zu schauen. „Schön, dich wiedergesehen zu haben!”

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