zum Hauptinhalt
Antonina Romanova auf der Leinwand des Gorki-Theaters während der Aufführung von  „Fucking Truffaut“.

© Karolina Jozwiak

Zwei Jahre Ausweitung der Invasion: Wie der russische Krieg das ukrainische Theater verändert hat

Wenn draußen Raketen fliegen, ist es schwer, Theaterstücke zu schreiben oder auf der Bühne zu stehen. Trotzdem wird das Theater in und aus der Ukraine gebraucht. Ein Gastbeitrag der Dramatikerin Anastasiia Kosodii.

„Ich denke, dass die Aufführung von Anti-Kriegsstücken heute, insbesondere in der Ukraine, nicht sinnvoll ist. Es ist gefährlich für das Leben unserer Bürger. Leider habe ich selbst viele Anti-Kriegs-Stücke inszeniert, um den Dialog und die Versöhnung zu suchen, und das war ein Fehler. Das funktioniert nicht. Das Einzige, was funktioniert, ist die Vernichtung des Feindes“, sagt der*die nicht-binäre Soldat*in Antonina Romanova in dem Stück „Fucking Truffaut“, das im Berliner Maxim Gorki Theater zu sehen ist.

Ich schaue auf die Projektion von Antonias Gesicht, auf die deutschen Untertitel, auf die Silhouette der Schützengräben hinter dem Kopf. Eigentlich sollte Antonia per Livestream an der Aufführung teilnehmen, aber an der Front ist es gerade zu heiß. Antonina ist Mörserschütz*in bei den ukrainischen Streitkräften, deshalb wurde der Monolog vorab aufgezeichnet.

Ich erinnere mich, dass Antoninas Stück „Miliz“ (PostPlay Theater, Kiew) einst meine erste Begegnung mit dem unabhängigen ukrainischen Theater war. Es war ein langer dokumentarischer Monolog eines ukrainischen Mannes, der beschließt, russischer Kollaborateur zu werden, um seiner Tochter ein Fahrrad zu kaufen. Die Schauspielerin, die diesen Monolog las, unterbrach ihn von Zeit zu Zeit mit persönlichen Betrachtungen, damit sich das Publikum von der „Banalität des Bösen“ erholen konnte. War es ein Antikriegsstück? Vielleicht.

In Antonina Romanovas „Fucking Truffaut“-Monolog heißt es weiter: „Es ist ein bisschen wie eine Missbrauchsbeziehung zwischen einem Mann und einer Frau. Ein Mann schlägt ein Mädchen, sie weint, schluchzt, aber dann entschuldigt er sich, sie versucht, etwas Gutes in ihm zu finden, sie gehen den Weg des Dialogs und der Versöhnung, und dann schließt sich der Kreis: Er legt wieder Hand an sie. Und das ist ein endloser Prozess.

Das klappt nicht. Was funktioniert, ist, dass man den Jungs, die Hände abhackt, wenn sie sie erheben. Wenn die Mädchen anfangen, den Jungs die Hände abzuschneiden, werden die Jungs aufhören, sie zu erheben, weil es dann keine Hände mehr gibt.“

Anforderungen an die Qualität von Theateraufführungen

Wir haben fast das zweite Jahr der umfassenden Invasion erreicht und es ist fast das zehnte Jahr des russischen Krieges in der Ukraine. Wie Antonina haben wir alle in dieser Zeit viele Dinge neu überdacht. Zum Beispiel: die Anforderungen an die Qualität von Theateraufführungen.

Ich stehe mit der Schauspielerin Olha Donik in der Lobby des Theater-Labors Vie in Saporischschja. Auf dem Tisch vor uns steht eine mit bunten Mustern bemalte Geschosshülse. Sie ist der Preis für die größte Spende, die an die Menschen geschickt wird, die die Kartusche dem Theater gespendet haben: eine Militäreinheit, die die Region Saporischschja verteidigt.

Manchmal stehe ich auf der Bühne und denke: Was, wenn eine Rakete kommt und das war‘s?

Olha Donik, Schauspielerin

Eine merkwürdige Tatsache: Die Menschen spenden gerne, um ein von der ukrainischen Armee genutztes Artefakt zu gewinnen, aber sie wollen nicht für Teile der von den Russen zerstörten Ausrüstung zahlen. Wahrscheinlich handelt es sich um einen Aberglauben: Der Feind ist so nah, dass man lieber keine Fragmente seiner Waffen mit zu sich nach Hause nimmt.

Saporischschja wird beschossen wie Charkiw

„Weißt du, manchmal stehe ich auf der Bühne und denke: Was, wenn eine Rakete kommt und das war‘s?“, sagt Olha. Ihre Befürchtungen sind gar nicht so abwegig: Russische Raketen sind bereits auf der Insel Chortyzja eingeschlagen, auf der sich das Theater-Laboratorium Vie befindet.

Saporischschja wird genau wie Charkiw, Mykolajiw und Cherson häufig von S-300-Raketen beschossen, die eine Flugzeit von weniger als einer Minute haben und daher von Luftabwehrsystemen kaum abgeschossen werden können.

Wir scherzen, dass dies natürlich die Anforderungen an die Qualität der Aufführungen erhöht. Im Februar dieses Jahres zeigt das Theater einige der Performances im Theater Oberhausen. Oberhausen ist die Partnerstadt von Saporischschja.

Die Bedeutung von Luftschutzbunkern

Die Räumlichkeiten des Theater of Playwrights in Kiew könnten technisch gesehen als Bunker betrachtet werden: Es handelt sich um ein Souterrain. Aber die Decke ist so dünn, dass man die Schritte der Menschen in den darüber liegenden Wohnungen hören kann; kein Ort, um sich vor Raketen zu verstecken.

Im übertragenen Sinne ist dieses Theater jedoch tatsächlich zu einem Zufluchtsort für das unabhängige Kiewer Theater geworden: die Art von Theater, die schon immer in Kellern mit lauten Nachbarn lebte (sein Vorgänger, das Post Play Theater, teilte sich zum Beispiel eine Wand mit dem Nachtclub Closer), mit loftartigen Wänden (Geldmangel für Reparaturen) und mit einem Minimum an Ausdrucksmitteln, was eine Konzentration auf den Text erzwingen.

Eben um der Texte willen ist das Theater of Playwrights gegründet worden: Die 20 Autorinnen und Autoren, die sich 2020 hier versammelten, träumten von einem Ort, an dem der Text fast unmittelbar auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren kann. Und diese Veränderungen haben nicht lange auf sich warten lassen.

Der Dramatiker Maksym Kurochkin, der erste Direktor des Theaters, trat am 24. Februar 2022 in die Streitkräfte der Ukraine ein. Bislang hat er nur einen kurzen Text über seine Erfahrungen geschrieben: „Drei Wege, den Alltag zu verbessern“. Dies ist eine Geschichte über den Frühling 2022, so genau, bitter und schön wie dieser Frühling selbst (war).

Es ist mir wichtig, das Ende dieser Geschichte für Sie zu zitieren: „Vor einer Stunde habe ich einen Weg gefunden, mit dem Geschehenen fertig zu werden. Ich setzte mich auf den Boden, nicht so, wie es den Soldaten beigebracht wird. Ich habe mich hingesetzt wie die Frau auf Andrew Wyeths berühmtem Gemälde, nur dass ich meinen Rücken gerade gehalten und meine Hand auf meine AK gestützt habe. Jetzt kann ich alles auf der Welt sehen, nicht nur meinen eigenen Sektor. Ich bin bereit für alles, was kommen wird. Die Leute in meinem Kopf sind endlich still.“

Die Notwendigkeit, zu sprechen

Wohnungen sind in Lwiw schwer zu finden: Die Nachfrage ist groß und die Preise fast so hoch wie in Berlin. Meine Freundin Vika war überglücklich, als sie eine Wohnung fand, die genug Platz für sie, ihren Mann und ihren Sohn bot. Außerdem war sie nicht weit vom historischen Zentrum entfernt. Aber es gibt eine Besonderheit: Die Fenster gehen auf das Marsfeld, den Friedhof der ukrainischen Soldaten, die seit dem 24. Februar 2022 im Kampf gefallen sind. Als wir abends zu ihr nach Hause gehen und uns unterhalten, blicken wir auf diesen Friedhof. 

Der Lychakiv-Militärfriedhof von Lwiw, auch bekannt als Marsfeld.
Der Lychakiv-Militärfriedhof von Lwiw, auch bekannt als Marsfeld.

© IMAGO/Avalon.red

„Jeden Abend zündet jemand Kerzen an, man kann sie auf jedem Grab brennen sehen“, sagt Vika. „Aber seit dem letzten Weihnachtsfest ist etwas Neues aufgetaucht: Verwandte hängen Weihnachtslichter auf einige Gräber. Ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll.“ Ich nicke, denn ich sehe schon das Funkeln dieser Lichter und weiß auch nicht, was ich davon halten soll, oder besser gesagt, ich denke zu viele Dinge auf einmal.

Wir kommen gerade von der Aufführung des „Klubs der Verzagtheit“ im Theater Lesia Ukrainka Lwiw zurück. Es handelt sich um ein postdramatisches Kabarett, dessen Teilnehmer über bizarre Marotten und Wünsche scherzen („Ich nehme manchmal einen Wattebausch zum Abschminken und wische damit meine Toilette ab“, „Ich würde gerne mit der Kraft der Gedanken essen“), um dann zu Aussagen über die Unerträglichkeit des Lebens im Hier und Jetzt überzugehen, zum Alltag während des Krieges, in dieser schrecklichen Ungewissheit.

„Haltet die Klappe!“, ruft der Schauspieler seinen Kollegen zu, die gerade mit den traditionellen Brechtschen Songs über korrupte Politiker begonnen haben. „Glaubt ihr, das Publikum weiß das nicht? Glaubt ihr, die leben in einer anderen Welt?!“ „Ist das schwer für euch?“, fragen die Schauspieler ihren Kollegen mitfühlend. „Vielleicht … einfach reden?“ Und dann redet er, über all diese Dinge: Politik, Korruption und noch viel mehr – überraschenderweise macht es das ein wenig leichter. Vielleicht ist das der Grund, warum wir das Theater überhaupt erfunden haben.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false