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Die Wildhunde Kalīla und Dimna sind die Hauptcharaktere einer gleichnamigen Fabelsammlung, deren Ursprünge bis ins Jahr 300 nach Christus zurückreichen.

© Paris, Bibliothèque nationale de France Ar. 3465, folio 48 recto

Lektionen über Zusammenhalt: Zwei Schakale reisen um die Welt 

Die arabischen Fabeln über die Wildhunde Kalīla und Dimna sind uralt. Forschende untersuchen jetzt ihre transkulturelle Geschichte.

Von Anne Stiller

Seit rund 1700 Jahren streifen zwei Schakale durch die Welt. Ihre Reise führte sie von Indien über den Iran nach Afrika, quer durch Europa bis nach Island. Kalīla und Dimna – so heißen die beiden Wildhunde – sind die Hauptcharaktere der gleichnamigen Fabelsammlung, deren Ursprünge bis ins Jahr 300 nach Christus zurückreichen. Die Erzählungen basieren auf der Dichtung des Panchatantra, einer Geschichtensammlung, mit deren Hilfe Prinzen am Hof lernen sollten, wie sich ein guter Herrscher zu verhalten habe. Im sechsten Jahrhundert übersetzte ein persischer Arzt die auf Sanskrit verfassten Texte ins Persische und reicherte sie mit neuen Inhalten an. Es ist die Geburtsstunde dessen, was wir heute als „Kalīla und Dimna“ kennen.

Zu diesem Zeitpunkt sind die beiden Schakale schon rund 3000 Kilometer mit ihren Geschichten gereist – vom heutigen Indien bis in die Region des heutigen Iran. Im Jahr 750 nimmt die Weltreise von Kalīla und Dimna erneut Fahrt auf: Der arabische Gelehrte Ibn al-Muqaffa‘ übersetzt die persische Version ins Arabische. Seine Fassung ist bis ins 19. Jahrhundert die Quelle aller weiteren Übersetzungen.

Dem US-amerikanischen Archäologen James Henry Breasted zufolge ist „Kalīla und Dimna“ neben der Bibel das am weitesten verbreitete Buch der Literaturgeschichte. Bislang bekannt sind Übersetzungen in 40 Sprachen, der Verbreitungsraum erstreckt sich von Malaysia bis nach Skandinavien. „‚Kalīla und Dimna‘ ist Weltliteratur!“, konstatiert die Arabistik-Professorin Beatrice Gründler von der Freien Universität.

‚Kalīla und Dimna‘ ist ein Muster­beispiel für den kulturellen Austausch“ Isla Karademir

Studentin der Semitistik an der Freien Universität

Trotzdem stehe die Forschung zu dem Werk noch am Anfang. Deshalb wollen Beatrice Gründler und ihr Team die Geschichtensammlung erstmals kritisch in einer digitalen Multitext-Ausgabe editieren und kommentieren. Wie genau entstanden die zahlreichen Manuskripte? Wer war an der Textproduktion beteiligt? Wie konnten sich die Texte so weit verbreiten? Über einen Zeitraum von zehn Jahren klären die Forschenden im Rahmen zweier Projekte diese Fragen. Gefördert werden die Vorhaben mit rund fünf Millionen Euro vom Europäischen Forschungsrat und der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die Bea­trice Gründler mit dem Leibniz-Preis im Jahr 2017 den wichtigsten deutschen Forschungspreis verlieh.

Was macht die Tiererzählungen so bedeutsam, dass sie über Jahrhunderte weitergetragen wurden und heute in arabischsprachigen Zeichentrickfilmen für Kinder gezeigt werden? Isla Karademir, die an der Freien Universität Semitistik studiert und in einem der Forschungsprojekte arbeitet, hat dafür eine Erklärung: „‚Kalīla und Dimna‘ hat zwei Funktionen. Zum einen sind die Geschichten Lektionen über Freundschaft, Zusammenhalt und Loyalität.

Es geht also um wichtige Ethik- und Moralvorstellungen, die uns Menschen schon immer beschäftigen.“ Außerdem seien die Erzählungen unterhaltsam und – durch das für Fabeln typische Vorkommen von Tieren, die menschliche Eigenschaften verkörpern – leicht verständlich. Tiere statt Menschen sprechen zu lassen, sei zudem eine gute Möglichkeit gewesen, Kritik an Herrschenden zu äußern.

Aufführung einer Epiosode aus „Kalīla und Dimna“ im Mendelssohn-Haus am Gendarmenmarkt.
Aufführung einer Epiosode aus „Kalīla und Dimna“ im Mendelssohn-Haus am Gendarmenmarkt.

© Aufführung einer Epiosode aus „Kalīla und Dimna“ im Mendelssohn-Haus am Gendarmenmarkt.

Mittlerweile sind die beiden Wildhunde mit ihren Geschichten im 21. Jahrhundert angekommen und machen auch Halt in Berlin, genauer: im Mendelssohn-Haus am Gendarmenmarkt. Hier hat das Seminar für Semitistik und Arabistik der Freien Universität gemeinsam mit der Mendelssohn-Gesellschaft und der Spanischen Botschaft in Berlin eine Veranstaltung zu interkulturellen Dialogen inszeniert. Bea­trice Gründler und Isla Karademir führen zusammen mit der Studentin und Schauspielerin Susana Abdulmajid und der promovierten Arabistin Maysoon Shibi Teile eine Episode aus „Kalīla und Dimna“ auf. Alberto Cantera Glera, Professor für Iranistik an der Freien Universität, spielt den Geschichtenerzähler. Musikalisch begleitet wird die Lesung von dem Duo Milo Ke Manda­rini.

Das Besondere: Die Performance wird in vier Sprachen vorgetragen, in die die Fabelsammlung übersetzt wurde: Arabisch, Hebräisch, Kastilisch und klassisches Syrisch. „‚Kalīla und Dimna‘ ist ein Musterbeispiel für den kulturellen Austausch quer durch Europa, Afrika und Asien, der uns miteinander verbindet – ganz egal, welche Sprache wir sprechen und welcher Religion wir angehören“, sagt Isla Karademir. Auch für eine Leibniz-Preisträgerin ist das etwas Besonderes: „Normalerweise lese ich die Texte still für mich. Umso mehr freue ich mich, die Vielsprachigkeit des Werkes jetzt auch zu hören – und zu genießen“, erzählt Beatrice Gründler.

Kalīla und Dimna faszinieren längst nicht mehr nur in der Literatur. Vor einiger Zeit brachte die spanische Modemarke Desigual ein T-Shirt heraus, auf dem – so heißt es auf der Website des Unternehmens – exotische Tiere abgebildet seien. „Na ja, das trifft es nicht so ganz“, kommentiert Beatrice Gründler die textile Hommage an ihren Forschungsschwerpunkt, denn tatsächlich abgebildet ist darauf eine Illus­tration einer Handschrift der Fabelsammlung. Gekauft hat sich Beatrice Gründler das Kleidungsstück trotzdem. Die Weltreise der beiden Schakale geht also weiter – und führt bisweilen bis in Berliner Kleiderschränke.

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