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Meinung: Das Bethlehem-Syndrom

Christen verlassen den Nahen Osten – obwohl sie dort dringend gebraucht würden

Die ganze Welt hat an Heiligabend auf Bethlehem geschaut. Eines wird aber meist vergessen: Die Wiege des Christentums ist längst keine christliche Stadt mehr. Weniger als ein Drittel der Einwohner sind Christen – die Mehrheit stellen die Muslime.

Die orientalischen Kirchen sind die ältesten der Welt. Aber was für Bethlehem gilt, gilt für den ganzen Nahen Osten: Die Christen verschwinden. Die dortigen Patriarchen schlagen Alarm. Sie fürchten, ihre Kirchen werden in Zukunft nur noch als Museen existieren. Ohne Gemeinden. Und ohne Zukunft.

Ramallah, Nazareth und Bethlehem waren einst christliche Hochburgen. Die muslimischen Flüchtlinge nach dem Krieg von 1948, aber auch die hohe muslimische Geburtenrate sowie die Abwanderung der Christen haben das Gesicht dieser Städte verändert. Machten Christen am Ende des 19. Jahrhunderts noch mehr als 13 Prozent der Bevölkerung Palästinas aus, so ist ihr Anteil in Israel und den besetzten Gebieten auf etwa 2 Prozent geschrumpft.Tendenz fallend.

Christen in den besetzten Gebieten leiden sehr unter den Folgen der Intifadah. Man könnte es das Bethlehem-Syndrom nennen: Die Absperrung palästinensischer Städte trifft die Gemeinden besonders hart, sind sie traditionell doch eng an die Zentralen in Jerusalem angebunden. Auch die wichtigste Einnahmequelle, der Pilger-Tourismus, bleibt aus. Und der Druck aus der eigenen Gesellschaft nimmt zu. Selbstmordattentate sind fast außschließlich ein muslimisches Phänomen. Und je mehr der Konflikt mit Israel zu einem zwischen Judentum und Islam stilisiert wird, desto deutlicher werden die Christen an den Rand gedrängt – oder von muslimischen Kämpfern als „Geisel“ genommen. Beispiel Beit Dschallah: In dem Bethlehemer Vorort hatten Tansim-Kämpfer zu Beginn der Intifada Stellung bezogen, um jüdische Vororte Jerusalems zu beschießen. Israelische Gegenmaßnahmen sollten so zu einem größeren Aufruhr in der Weltöffentlichkeit führen. Das Ergebnis sah anders aus: Viele Christen verließen ihren Heimatort. Gab es Anfang der 90er Jahre Anzeichen für eine Stabilisierung der christlichen Bevölkerung, so stehen die Zeichen in den besetzten Gebieten nun wieder auf Auswanderung.

Die christliche Bevölkerung nimmt auch anderswo ab. In Ägypten, Libanon, Syrien und Irak wächst sich das, was man als „arabische Krise“ bezeichnet, zu einer Existenzkrise des lokalen Christentums aus. Auch ein Opfer der Moderne: Seit dem 19. Jahrhundert wurden die meisten arabischen Christen in westlichen Schulen erzogen. Dementsprechen gut ausgebildet sind sie heute – was ihre Geburtenrate drückt und ihre Chancen auf einen Job im Ausland erhöht. So leben in Nord- und Südamerika inzwischen mehr orientalische Christen als im Orient. Schlimmer als die stagnierende Wirtschaft ist aber die Re-Islamisierung der Gesellschaften. Einst waren Christen Vorreiter des arabischen Nationalismus. Seit der iranischen Revolution von 1979 bemühen sich die arabischen Regime aber vermehrt um islamische Legitimität. Selbst in Ägypten, wo die Kopten traditionell die Verwaltungselite stellten, gibt es kaum noch Christen in gehobenen Staatsposten.

Vielleicht sollten sich die arabischen Staaten ein Beispiel an Israel nehmen. Zwar befördern israelische Repressalien die Auswanderung aus den besetzten Gebieten. Gleichzeitig geht es den Christen innerhalb Israels weitaus besser als anderswo. Was Gesundheit und Bildung anbelangt, stehen sie sogar besser da als die jüdische Bevölkerung.

Wie überall in Nahost gehören Israels Christen zumeist der städtischen Mittelschicht an. Und obwohl sie nicht vollkommen gleichberechtigt sind, zeigt sich doch, welch enormes Potenzial in ihnen steckt. Zur Entfaltung brauchen sie aber das, woran es in arabischen Staaten mangelt: Eine offene Gesellschaft.

Solange die nahöstlichen Diktatoren nicht zu Reformen bereit sind, werden sie weiter das verlieren, was die Region am meisten braucht: Eine Mittelschicht, aus der einmal eine Bürgergesellschaft hervorgehen könnte. So aber setzen die nahöstlichen Gesellschaften nicht nur ihre christliche Vergangenheit aufs Spiel, sondern auch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

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