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Nigerianische Militäreinheiten bereiten sich auf den Kampf gegen Boko Haram vor.

© Reuters

Geschichte und Gewalt: Das Gestern im Heute lesen

Wo es um die Folgen von Kriegen, Lagerhaft, Sekten, sexueller Gewalt geht, muss die Vergangenheit studiert werden. Dann wird klar, warum sich die Dramen so oft wiederholen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Caroline Fetscher

Afrikas Traumata scheinen sich in einer schier unendlichen Schlaufe zu wiederholen. Alles, was heute an Schrecken berichtet wird, war schon einmal da. Boko Haram, die Terrortruppe, deren Taten in Nordnigeria jetzt wieder weltweit für Schlagzeilen sorgen, ist kein Ausnahmefall.

Alles war schon mal da, wenn auch unter anderen Fahnen, versehen mit anderen ideologischen Etiketten, mit anderen Namen. Vorgeprägt sind Strukturen von Korruption, Gewalt, Fanatismus, Verschleppung, Versklavung. Das Missachten von Frauen, Kindern und Besitzlosen, die Willkür der Macht und die Straffreiheit der Mächtigen: nichts daran ist neu. So gut wie jede gegenwärtige Untersuchung zum Kolonialismus benennt Gräueltaten, die sich nicht nur messen können mit den heutigen, sondern ihnen bis in Details hinein ähneln.

Kolonialherren aller Länder beschafften sich Arbeits- und Sexsklavinnen, wollten meist auch zum Konvertieren zwingen, ließen Hände abhacken oder Ortschaften niederbrennen, wo Gehorsam und Dienstleistungen verweigert wurden. Das schlimmste Beispiel stellte der Kongo-Freistaat von Belgiens König Leopold II. dar. Waren die imperialen Kolonialmächte verzerrte Karikaturen ihrer Rede von der „mission civilisatrice“ (Frankreich, Belgien) oder der „Hebung der Eingeborenen“ (Deutsches Reich), so boten die Potentaten, Despoten und Milizanführer vieler afrikanischer Territorien in der Wiederholung später oft das Bild einer Karikatur der Karikatur. Imitiert wurden die pompösen Uniformen, das autoritäre Gehabe, die Prunksucht und Brutalität der abgelösten Mächte bis ins Ultrabizarre.

Was nicht verarbeitet, durchdacht wurde, reproduziert sich selbst

Aber Afrika ist mit diesem Befund kein Solitär. Fast alle Großgruppen, in denen nicht offen aufgeklärt, frei geforscht, wahrheitsgemäß erinnert wird, weisen die Tendenz zum Wiederholen aus. Was nicht verarbeitet, durchdacht wurde, reproduziert sich selbst, das gilt nicht nur für Individuen. Sowjetrussland war auf dem Papier ein Sieger im Zweiten Weltkrieg. Verloren hatte das Land trotzdem: unvorstellbare 27 Millionen Kriegstote. Um ein Vielfaches höher noch war die Zahl ihrer Angehörigen, und unermesslich das Maß an Trauer, Zorn, Hass, Kränkung, Scham, die Zahl der zerrissenen sozialen Netze. Wenn jetzt das phantasmatische Projekt einer Wiederherstellung russischen Territoriums zum schlecht versteckten Ziel der Kreml-Politik wird und Millionen Russen ihm zujubeln, ist da ein dysfunktionaler Impuls zur Wiedergutmachung im Spiel.

Darin, in der Dynamik solcher Emotionen, nicht in „ethnischen“ oder „nationalen“ Charakteren, finden sich anthropologische Konstanten. Vergleichbares gilt unter anderem für die Konflikte der arabischen Staaten des Nahen Ostens und des Maghreb, wo Dramen der Vergangenheit neu inszeniert werden. Im Swat-Tal zwischen Afghanistan und Pakistan erlebte der junge Winston Churchill 1897 als Journalist Kämpfe zwischen Regierung und „aufständischen Stämmen“. Seine Schilderungen von Gewalt und Gegengewalt wirken auffällig aktuell.

Von transgenerationellen Traumafolgen verstehen auch aufgeklärte Gesellschaften noch viel zu wenig. Indem sich die einschlägige Forschung auf das vermeintlich Konkrete stürzt, auf Synapsen, Nerven, Gehirne, hat sie Teil am Trend zum Ahistorischen. Zugleich ist sie selber Symptom der Furcht und Flucht vor dem Erkennen traumabedingter Zusammenhänge, denn sie betreffen fast jeden, jede Gruppe, Familie, Nation in milder oder schwerer Form.

Vom ursprünglichen Trauma – Überfall, Brandschatzung, Mord, Vertreibung – führt der psychische Pfad zu Leugnungsbarrieren, Umkehrungen, Auslassungen, wandelbar von einem Narrativ zum anderen, von einer Generation zur anderen. Aus Opfern wie Tätern können nahezu mythische Helden werden, Ursache und Wirkung können verkehrt werden. So wird sich der Glaube an die konstruierten Figuren und Legenden als resistent erweisen gegen historische Erkenntnis, solange sie nicht gelehrt, gefördert und psychologisch verstanden wird.

Zum Handgepäck von Diplomaten und Standardwerk zeitgemäßer Politik sollten darum Bücher wie der moderne Klassiker „Die Narben der Gewalt“ von Judith Herman gehören, die an der Harvard Medical School lehrt. Herman versteht ihr wissenschaftliches Gebiet als eminent politisch, und sie hat damit recht. Wo es um die Folgen etwa von Kriegen, Lagerhaft, Sekten, sexueller Gewalt geht, muss das Gestern im Heute lesbar gemacht werden.

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