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Mitten im Kampf: Vitali Klitschko.

© imago/ITAR-TASS

EU und Ukraine: Auf nach Kiew

EU-Europa meint es gut, agierte bisher aber zu vertrauensselig. Die Europäer müssen endlich nach Kiew, um den Ukrainern den Glauben zurückzugeben!

Rätsel über Rätsel: Nach bewundernswerten wochenlangen Protesten in Kälte und Schnee scheint die ukrainische Opposition am Ziel. Der belagerte moskautreue Präsident Janukowitsch bietet ihr die Übernahme der Regierung an. Doch sie wirft ihren Sieg fort, lehnt das Angebot ab. Warum?

Die Ukraine ist uns nähergerückt und fremd geblieben. Zum zweiten Mal nach der „orangenen“ Revolution vor zehn Jahren riskieren Zehntausende Leben und Gesundheit, stellen sich in Kiew, Poltawa und Winizja prügelnden Milizen entgegen, fordern ihre Chance auf Freiheit, Demokratie und Prosperität. Die Wucht der proeuropäischen Demonstrationen rührt viele im Westen. Jetzt aber, da die Opposition die Teilung der Macht ausschlägt und den Bürgerkrieg riskiert, wächst die Angst. Molotowcocktails auf Polizisten und brennende Barrikaden passen schlecht zum Traum vom inklusiven Europa. Droht da ein europäisches Syrien direkt vor unserer Haustür?

Von Nahem betrachtet handeln die drei Oppositionsführer nicht irrational. Sie haben kein Vertrauen, dass das Regime die Machtteilung ernst meint. Sie haben auch kein Vertrauen in die Haltbarkeit ihres Dreibundes. Der Druck von oben (Regime) und unten (die Straße) hält sie zusammen. Im Erfolgsfall werden sie bald um die Macht konkurrieren. Wird dann Vitali Klitschko, der als Saubermann gilt, aber unerfahren in ukrainisch-russischen Machtintrigen ist, die Bewegung anführen? Oder der vorsichtige Taktierer Arseni Jazenjuk aus der Partei der inhaftierten Ex-Galionsfigur Julia Timoschenko? Oder Nationalist Oleg Tjagnibok? Sie argwöhnen, dass Janukowitsch sie leicht gegeneinander ausspielt, wenn sie teils in der Regierung sitzen, teils die Proteste fortführen. Klitschko spricht von einem „vergifteten“ Angebot.

Sie fürchten zudem, die Kontrolle über die Straße zu verlieren, wenn sie sich mit einem halben Sieg zufrieden geben. Die Winkelzüge, mit denen das Regime die EU-Annäherung auf russischen Druck verhinderte, hat die Menschen auf die Straße gebracht. Mit der Folterung von Dissidenten und den tödlichen Schüssen auf Demonstranten hat es weitere Bürger auf die Seite der Opposition getrieben. Nun verlangen deren Führer Neuwahlen, damit sich die neue Machtbalance in Parlament und Präsidentenamt spiegelt.

Janukowitschs Ziel ist der Machterhalt und die Zermürbung der Protestbewegung. Was nützt ein Regierungschef der Opposition, wenn der Präsident ihn jederzeit entlassen kann? Janukowitsch hat zudem die absolute Mehrheit und missbraucht sie, um demokratiefeindliche Gesetze durchzupeitschen. In Städten, in denen die Opposition die Bürgermeister stellt, neutralisiert er diese, indem er Gouverneure ernennt und ihnen Geld zuweist. Die Opposition braucht nicht nur an der Regierungsspitze, sondern an vielen Stellen Waffengleichheit, um in diesem Machtkampf eine Chance zu haben.

Die Lage ist also komplizierter als in unseren etablierten Strukturen. Hinzu kommt die innere Spaltung der Ukraine. Eine weitere Eskalation droht das Land zu zerreißen. Die Krim hat bereits einen Vorratsbeschluss zur Angliederung an Russland getroffen. Im Westteil gibt es Sezessionsbewegungen pro Europa.

Das alles müssen die EU und Nationalstaaten wie Deutschland, Frankreich und Polen bedenken, wenn sie auf die Ukraine einwirken. Sanktionen sind berechtigt, reichen aber nicht. Sie müssen von konstruktiven Angeboten begleitet sein, die Janukowitsch und die Opposition aus der gefährlichen Dynamik herauslocken. Zum Beispiel Wirtschaftshilfe und Gas-Pipelines aus dem EU-Staat Slowakei, um die Abhängigkeit von russischen Lieferungen zu kontern, mit denen Moskau die Ukraine erpresst. Keine Hilfe wäre es, Russland an den Verhandlungstisch zu bitten. Wohin das führt, sieht man in Syrien. Moskau ist kein ehrlicher Makler wie die EU. Sein Ziel ist es nicht, Probleme zu lösen, sondern alles zu verhindern, was seinen Einfluss schmälert. Deshalb schürt es den Konflikt. EU-Europa meint es gut, agierte bisher aber zu vertrauensselig. Auf nach Kiew, um den Ukrainern den Glauben zurückzugeben!

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