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Hatice Akyün.

© Andre Rival

Kolumne "Meine Heimat": "Ich kann dabei zuschauen, wie ich mutiere"

„Man ist so alt, wie man sich fühlt“, ruft sich unsere Kolumnistin Hatice Akyün zu ihrem Geburtstag ins Gedächtnis. Dabei bemerkt sie jeden Morgen Veränderungen an sich, die sich im Laufe des Tages nicht mehr zurückbilden.

Ich sage es gleich vorweg, Sie müssen mir nicht gratulieren. Ignorieren Sie diesen Tag einfach, ich tue es auch. Früher war der Geburtstag Ausdruck von Entwicklung, von Fortschritt. Aber Lebensweisheit und zunehmender Verfall des Körpers passen einfach nicht zusammen. Der Aufwand, seinen eigenen Vorgaben von Begehrlichkeit zu entsprechen, wird nahezu unlösbar. Ich hungere und laufe mir einen Wolf. Ja, ich gebe es zu, ich lege Wert darauf, ansatzweise als begehrenswerte Frau wahrgenommen zu werden. Erschreckt Sie das? Mich auch. In der Türkei sagt man, dass ein Gramm Fleisch tausend Makel verdecke. Diese Art von Weisheit ist der Grund, warum ich mich unbewusst für den Speck entschieden habe. Jeden Morgen bemerke ich Veränderungen an mir, die sich im Laufe des Tages nicht mehr zurückbilden. Ich kann quasi dabei zuschauen, wie ich mutiere.

„Man ist so alt, wie man sich fühlt“, werden Sie nun versuchen, mich zu beruhigen. Das mit dem Fühlen ist aber eine launenhafte Sache. Heute zum Beispiel fühle ich mich viel älter, als ich es in Wirklichkeit bin. Auf einer Party am Wochenende fühlte ich mich wie 18. Am nächsten Morgen allerdings wie 72. Nach zwei Aspirin stürzte mein Alter wieder auf geschätzte 50. Sparen Sie sich bitte jegliche Ratschläge bezüglich meines Alters.

Aber da ist noch etwas anderes. Früher machte ich mir einen Riesenspaß daraus, mein Alter schätzen zu lassen. Ich wurde ja glücklicherweise immer für jünger gehalten. Diese Spielereien lasse ich jetzt lieber sein. Zu oft ist das nach hinten losgegangen. Was auch daran liegt, dass ich als alte Schachtel sowieso nicht mehr nach meinem Alter gefragt werde. Und ich lebe viel zu sehr im realen Leben, als dass ich diese Illusion unreflektiert bejubeln könnte.

Bei Männern ist Aussehen zweitrangig. Ein ehemaliger Chef rief mir auf dem Weg zu Terminen immer hinterher: „Sieh gut aus und sag was Kluges.“ Zu männlichen Kollegen sagte er so etwas nie. Denen hat er gleich die Stellvertretung des Büros übergeben, wenn er unterwegs war.

Ein Freund um die fünfzig erzählte mir neulich, dass er mittlerweile eine Bandbreite von attraktiven Frauen um sich herum habe. Sie seien zwischen Mitte zwanzig und Mitte sechzig. Ich glaube, dass er mitten in einer Midlifecrisis steckt. Im Rahmen der Geschlechtergerechtigkeit habe ich auch ein Recht auf eine weibliche Mittelalterkrise. Aber leider brennen auf meinem Geburtstagskuchen keine Kerzen der Leidenschaft mehr, sondern nur noch eine beachtliche Lichterkette von Erinnerungen und Erfahrungen.

Aber Schluss jetzt mit dem Gejammere. Mein Grundgedanke war ja eigentlich, Sie dafür zu erwärmen, Frauen jenseits der vierzig noch begehrenswert zu finden. Vielleicht haben wir nicht mehr ganz die Maße wie mit zwanzig, aber dafür umso mehr Köpfchen. Es braucht eben eine gewisse Zeit, bis der sich rundgedacht hat.

Oder wie mein Vater sagen würde: „Yasi at pazarinda sorarlar“ – Das Alter ist nur auf dem Pferdemarkt von Interesse.

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