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Meinung: Warum hassen sie uns?

Der Terror ist ein Problem der muslimischen Gesellschaften, das diese mit sich selbst ausmachen müssen

Im September ist es vier Jahre her, dass islamische Terroristen New York und Washington angegriffen haben. Auch wenn die Erinnerung daran inzwischen einiges von ihrer unmittelbaren Schärfe verloren hat, so führen die mörderischen Anschläge in London uns doch wieder neu und akut vor Augen: Wir im Westen haben weiter ein Sicherheitsproblem. Der Kampf gegen den Terror ist keineswegs gewonnen.

Trotz aller berechtigten Warnungen, dass die Terroristen jederzeit auch in anderen Ländern Europas zuschlagen könnten, markiert London doch eine Zäsur. Die gefasste, fast geschäftsmäßige Reaktion der britischen Behörden auf eine Attacke, die lange vorhergesagt worden war, aber dann doch überraschte, als sie einschlug, könnte so etwas wie eine Wende in unserem Umgang mit dem Phänomen des islamischen Terrors einleiten. Weg von Kulturkampf- und Weltuntergangsszenarien hin zu einer nüchterneren Analyse des Problems.

Auch die Reaktion der Börsen zeigt, dass wir inzwischen eine gewisse Routine im Umgang mit dem Terror haben. Wir fürchten nicht mehr wie nach dem 11. September, dass er uns überrollen und die Fundamente unser freiheitlichen Gesellschaften ernsthaft angreifen könnte. Die Konfrontation mit Al Qaida und die Tatsache, dass die Führer des Netzwerks nicht gefasst werden konnten, hat dem Westen zwar die Grenzen seines Handelns in der Welt aufgezeigt. Aber die letzten Jahre haben auch die Grenzen Al Qaidas deutlich gemacht, unsere Gesellschaften lahm zu legen. Zumindest die Briten haben in den Tagen der Heimsuchung jene „heroische Gelassenheit“ an den Tag gelegt, die der Politologe Herfried Münkler uns im langen Kampf gegen den Terror anempfohlen hat: Wer nicht in Panik gerät, nimmt den Terroristen viel von ihrer Wirkung, die vor allem darin besteht, den angegriffenen Gesellschaften ein psychologisches Trauma aufzuzwingen.

Auch in Zukunft werden wir nicht jeden Anschlag der religiösen Fanatiker verhindern können. Aber letzlich sind die meisten von uns überzeugt, dass wir diesen Kampf bestehen können. Dass unsere Gesellschaften doch stärker und widerstandsfähiger sind, als manche nach dem 11. September befürchtet hatten.

Wir sollten uns allerdings nicht täuschen lassen über die Ursachen dieses Terrors: Wer jetzt argumentiert, London sei – wie Madrid – nur eine Quittung für den Irakkrieg, geht der Al-Qaida-Propaganda auf den Leim. Natürlich dient der Irakkrieg den Terroristen als willkommenes Rekrutierungs- und Mobilisierungsmittel. Er hat allerdings nur die Prioritäten des Terrornetzes beeinflusst: Wer Truppen im Irak hat, steht ganz oben auf der Liste. Gleich dahinter rangieren all jene, die sich „nur“ an der Vertreibung der Taliban aus Afghanistan beteiligt haben; danach kommen die, die allgemein zur Gemeinschaft der Ungläubigen im Westen gehören.

Al Qaida hat ja auch keinen Irakkrieg gebraucht, um die Twin Towers in New York und das Pentagon in Washington anzugreifen oder deutsche Touristen auf Djerba zu verbrennen. Auch die Anschläge auf westliche Touristen in Bali lagen vor dem Beginn des Krieges. Und die Bomben in Istanbul trafen ein Land, dass sich den Amerikanern gar verweigert hatte.

Ein weiteres Erklärungsmuster darf ebenfalls als widerlegt gelten: dass es sich hier um einen Aufstand der Armen und Unterdrückten handelt. Folgt man dieser Theorie, dann müsste Schwarzafrika täglich jede Menge von Terroristen produzieren, da es diesem Teil der Welt wirtschaftlich noch viel schlechter geht als den Arabern. Zudem zeigen alle Studien über muslimische Terroristen, dass wir es bei Al Qaida mit einem Identitäts- und keinem Armutsterrorismus zu tun haben. Die Extremisten entstammen meist der Mittelschicht, sie sind überdurchschnittlich gebildet, viele hatten studiert. Ihr Terror ist nicht das letzte Mittel der Schwachen, sondern, wie der amerikanische Philosoph Michael Walzer schreibt, „das erste Mittel von Militanten, die von Anfang an glauben, dass der Feind getötet werden muss, und die weder willens noch fähig sind, ihr eigenes Volk für irgendeine andere Art der Politik zu organisieren“.

Eine der großen Stärken des Westens ist seine Fähigkeit zur Selbstkritik. Nur wer sich selbst hinterfragt, ist in der Lage, Fehler zu korrigieren. Und so ist es nicht verwunderlich, dass sofort nach den Anschlägen des 11. September auch hier Stimmen laut wurden, die behaupteten, Amerika und der Westen hätten die Anschläge mit ihrer Politik selbst heraufbeschworen. Wahr daran ist, dass der Westen im Nahen und im Mittleren Osten viele Fehler gemacht hat. US-Präsident George W. Bush etwa hält die westliche Politik der letzten 60 Jahre in der Region für gescheitert, weil sie auf Stabilität – sprich: die Despoten – gesetzt hat und Instabilität – sprich: Terror als Antwort auf gesellschaftliche Repression – geerntet hat.

Solche Selbstkritik ist angebracht, sie rührt aber letztlich nicht an den Kern des Problems: Viele Muslime hassen den Westen nicht für das, was er tut, sondern für das, was er ist: eine ständige Erinnerung daran, dass die muslimische Zivilisation ihre besten Zeiten längst hinter sich hat.

Der Islam basiert, wie manch andere Religion auch, auf einer heroischen Erzählung. Der Koran berichtet die Geschichte einer religiösen Gemeinschaft, der Umma, die stets siegreich bleibt und sich unaufhaltsam auf der arabischen Halbinsel ausbreitet. Bis heute sehen Muslime im Islam die Perfektion der göttlichen Offenbarung und im Koran den Bauplan für die perfekte Gesellschaft, die allen anderen überlegen ist. Im ersten halben Jahrtausend nach der Verkündung Mohammeds im 7. Jahrhundert konnte die muslimische Zivilisation diese Überlegenheit tatsächlich gegenüber vielen anderen Kulturen für sich in Anspruch nehmen. Sie war mächtig, vital, wissbegierig und deshalb auch wohlhabend. Doch das ist lange her.

Seit dem Ende der Kolonialherrschaft im Orient war nie so deutlich wie heute, dass die muslimische Zivilisation den Anschluss verliert – wirtschaftlich genauso wie geistig und politisch. Und so ist es kein Wunder, dass einer der am häufigsten verwendeten Begriffe im muslimischen Diskurs der letzten Jahre der der Demütigung ist. Und es ist auch kein Wunder, dass die Köpfe der Attentate des 11. September lange im Westen gelebt hatten, wo ihnen die Zurückgebliebenheit ihrer eigenen Gesellschaft jeden Tag vor Augen geführt wurde.

Die arabisch-muslimische Welt befindet sich in einer Modernisierungskrise. Und statt selbstkritisch die eigenen Versäumnisse zu thematisieren, neigen solcherart gedemütigte Gesellschaften dazu, die Schuld bei anderen zu suchen. Für viele nationalistische Deutsche waren es seit Ende des 19. Jahrhunderts die Juden, die schuld sein sollten an der Modernisierungskrise Deutschlands. Für ihre eigene Misere machen Muslime heute abermals gerne Juden, Amerikaner oder den Westen insgesamt verantwortlich.

Das Gefühl der Demütigung, gepaart mit dem Feindbild Westen, macht sich Al Qaida zunutze. Denn selbst, wenn es in der muslimischen Welt keine Mehrheit gibt für die islamofaschistische Ideologie der Terroristen, so empfinden doch viele Muslime Genugtuung, wenn die Extremisten es den Demütigern der Muslime mal wieder gezeigt haben. Und leider sind es immer noch viel zu wenige Stimmen in der muslimisch-arabischen Welt, die sich selbstkritisch äußern. Und die fragen, warum zu viele Muslime noch keinen Ausweg gefunden haben aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit.

Schließlich ist es nicht der Westen, der verhindert, dass die wenigsten muslimischen Frauen sich am Wirtschaftsleben beteiligen können, dass im arabischen Raum so wenig Bücher geschrieben oder übersetzt und noch weniger erstklassige Wissenschaftler produziert werden. Der Westen ist auch nicht verantwortlich für die lähmende Bürokratie in arabischen Staaten, die Vetternwirtschaft, die politische Repression und für Imame, die Freigeister verfolgen, aber sich weigern, eine Fatwa gegen Osama bin Laden zu erlassen. Ebenso wenig sind wir verantwortlich dafür, dass dieselben Imame einen Kinderreichtum predigen, mit dem kein Wirtschaftswachstum mithalten kann.

Das alles macht deutlich: Der islamische Terrorismus ist ein Problem für uns, aber er ist nicht unser Problem. Er ist ein Problem der muslimischen Gesellschaften, das diese weitgehend mit sich selbst ausmachen müssen. Die geistige Auseinandersetzung mit den islamischen Quellen dieses Terrorismus kommt in der Region aber nur schleppend voran. Daran hat auch die Tatsache, dass etwa im Irak besonders viele Muslime den Terroristen zum Opfer fallen, bisher wenig geändert.

Das beste Beispiel für die Verdrängung ist Saudi-Arabien: Nach dem 11. September haben die Saudis noch so getan, als gehe sie das nichts an, obwohl 15 der 19 Attentäter aus Saudi-Arabien kamen. Erst, seit Al Qaida Ziele in Saudi-Arabien angreift, gehen die Behörden entschlossener gegen Terrornetzwerke vor. Aber bis heute hat die saudische Gesellschaft nicht wirklich darüber diskutiert, dass der Wahabismus, der in den Moscheen, Schulen und Universitäten gelehrt wird, eine Art geistige Vorstufe zur Al-Qaida-Ideologie bildet, weil er einen ausgrenzenden, intoleranten Islam predigt. Ein Problem nicht nur in Saudi-Arabien, weil die Saudis viel Geld in wahabitische Madrassas in der ganzen Welt investieren, um ihre Lehre zu verbreiten.

Es gibt eine Vielzahl von Rezepten islamistischer Couleur, die den Muslimen eine Rückkehr in die Vergangenheit als Ausweg aus der Krise weisen. Demgegenüber gibt es kaum vorwärts gewandte Ansätze, sei es was die geistige Begründung eines Reformislam anbelangt, seien es liberale, säkulare Vorstellungen von der Organisation muslimischer Staaten und Gesellschaften. Und solange die autoritären Herrscher in der Region ihre Gesellschaften nicht öffnen, ihre Wirtschaft nicht entriegeln und kein fruchtbares geistiges Leben ermöglichen, werden diese Staaten weiter zurückfallen.

Keine Gesellschaft konnte es sich in der Geschichte leisten, am wissenschaftlichen, technischen und politischen Fortschritt in der Welt nicht teilzuhaben. Aber niemals waren die Kosten der Unbeweglichkeit größer als heute. Und weder die Herrscher in der arabischen Welt noch die Imame haben verstanden, welche Chancen und welche Herausforderungen die forcierte Globalisierung in den letzten 15 Jahren mit sich brachten.

Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs, der Deregulierung der indischen Wirtschaft und vieler lateinamerikanischer Märkte, mit der Öffnung Chinas nehmen heute etwa drei Milliarden mehr Menschen an der globalen Wirtschaft teil als zur Zeit des Kalten Krieges. Die osteuropäischen Staaten, Indien, China und manch andere haben die Entwicklungschancen genutzt, die diese Öffnung und die Möglichkeiten der internetbasierten Technik ihnen bieten. Der Nahe und der Mittlere Osten hingegen fallen weiter zurück. Gleichzeitig erleichtert das Zusammenrücken der Welt, Vergleiche zwischen Ländern und Regionen anzustellen – ein Grund, warum muslimische Jugendliche heute mehr denn je darunter leiden, dass sie die Möglichkeiten, die ihnen diese neue Welt bieten könnte, so wenig zu nutzen imstande sind.

So ensteht enorme Frustration, weil Wünsche und Ambitionen von so vielen jungen Muslimen in der veriegelten Realität vieler arabischer Staaten nicht realisiert werden können. Als Ergebnis bieten diese Länder der Welt heute keine cleveren Software-Ingenieure an wie etwa Inder oder Israelis, sondern clevere Ingenieure des Todes.

Es gibt wenig, was der Westen tun kann, um das aggressiv nach außen gewendete Gefühl der Minderwertigkeit und Demütigung unter Muslimen zu lindern. Er kann nur helfen, den Autokraten in der Region ein wenig Spielraum abzutrotzen, um den Menschen in der Region eine freiere Debatte über ihren künftigen Weg zu ermöglichen. Die USA eignen sich allerdings schlecht dafür, sie sind inzwischen so „radioaktiv“ geworden in der Region, dass selbst Reformer, für die sich die Amerikaner einsetzen, nicht mit ihnen in Verbindung gebracht werden wollen. Hier wartet also eine Rolle dringend darauf, von Europa besetzt zu werden – auch im wohlverstandenen Eigeninteresse. Denn wie die Anschläge in London und Madrid zeigen, ist Europa offenbar verwundbarer für Terrorattacken als die USA.

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