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Brandenburg: Mord oder Totschlag

Kriegsverbrecher in Wollin: Staatsanwälte weisen Vorwurf schleppender Ermittlungen zurück

Wollin - Der Vorsitzende der Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (BVVN) ist zufrieden. Am Sonnabend hatte der BVVN in dem brandenburgischen Dörfchen Wollin dagegegen protestiert, dass ein Kriegsverbrecher dort unbehelligt lebt: Karl Gropler soll im Jahr 1944 an einem Massaker der deutschen Waffen-SS im italienischen Dorf Sant’Anna beteiligt gewesen sein, bei dem 560 italienische Zivilisten ermordet wurden. Dafür wurde Gropler im Juni 2005 von einem italienischen Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt.

„Wir haben darauf aufmerksam gemacht, dass in Deutschland Kriegsverbrecher leben“, sagt der BVVN-Vorsitzende Hans Coppi. Auch gestern wieder waren Reporter in Wollin unterwegs und versuchten, Gropler zu sprechen. Der heute 82-Jährige verweigert eine Stellungnahmen bisher.

Auch die in seinem Fall ermittelnde Staatsanwaltschaft in Stuttgart spürt mittlerweile den Druck der Öffentlichkeit. Ihr wird vorgeworfen, zu langsam zu arbeiten. „In Stuttgart ermittelt man umfangreich, bis alle Angeklagten tot sind“, ärgert sich die Anwältin der Überlebenden des Massakers, Gabriele Heinecke.

Staatsanwältin Tomke Beddies weist den Vorwurf zurück: „Gelingt es uns nicht, das Mordmerkmal ,Grausamkeit‘ nachzuweisen, dann kommen die Täter mit ‚Totschlag‘ davon.“ Totschlag aber verjährt in Deutschland nach 20 Jahren. Gropler und seine Waffenbrüder aus der NS-Zeit wären dann nach deutschem Gesetz nicht mehr zu verurteilen.

Erst seit 2002 ist man in Stuttgart mit dem Fall befasst. „Bis in die 90er Jahre scheint man weder in Deutschland noch in der DDR etwas von dem Fall gewusst zu haben“, bedauert Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm von der Ludwigsburger Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Gewaltverbrechen. „Trotz eines expliziten Aufrufs der Bundesregierung von 1965, sämtliche potentiell belastende Akten nach Deutschland zu schicken, haben die Italiener nie Akten über Sant’Anna geschickt.“ Offenbar waren die belastenden Unterlagen in Italien über 60 Jahre nicht bearbeitet worden. Hans Coppi vom BVVN: „Die Italiener haben nach anfänglicher Arbeit in den 50er Jahren die Ermittlungen eingestellt, um den neuen Nato-Partner Deutschland nicht zu düpieren.“ Oberstaatsanwalt Schrimm spricht von einer „Schlussstrichmentalität“: „Man wollte damals den Zweiten Weltkrieg nicht länger auf der politischen Tagesordnung haben.“ Erst Mitte der 90er Jahre begann die italienische Justiz mit der Aufarbeitung des Massakers. Zu Oberstaatsanwalt Schrimm in Ludwigsburg kam der Fall erstmals 1996 im Zuge italienischer Ermittlungen via Interpol. Bei der Bearbeitung weiterer Anfragen in den folgenden Jahren entschied man sich in Ludwigsburg, den Fall an die Staatsanwaltschaft Stuttgart weiterzuleiten: Dort wohnt einer der mutmaßlichen Kriegsverbrecher. Die Stuttgarter Strafverfolger erweiterten den Fall später: Sie ermitteln mittlerweile gegen 15 Beschuldigte; in Italien wurden nur zehn Täter verurteilt.

In Wollin aber zeigt man sich sowohl von den Ermittlungen als auch von dem italienischen Urteil weiterhin unbeeindruckt. Über ihren Nachbarn Karl Gropler äußern sich die Dorfbewohner entweder positiv oder gar nicht. Manche rechnen auch einfach auf: „Dass die Alliierten Dresden zerbombt haben“, erregt sich ein Wolliner Bürger, „das weiß heute kein Schwein mehr.“

Johannes Boie

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