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Brandenburg: Nicht wegsehen

Sandra Dassler über „Hilferufe“ eines kleinen Jungen und warum sie uns weiter beschäftigen müssen ANGEMARKT Die Sängerin Suzanne Vega hat wahrscheinlich noch nie etwas von der Stadt Strausberg gehört. Ihr bekanntester Song „My name is Luka“ beschreibt allerdings eine Geschichte, die ohne weiteres in Strausberg spielen könnte.

Sandra Dassler über „Hilferufe“ eines kleinen Jungen und warum sie uns weiter beschäftigen müssen

ANGEMARKT

Die Sängerin Suzanne Vega hat wahrscheinlich noch nie etwas von der Stadt Strausberg gehört. Ihr bekanntester Song „My name is Luka“ beschreibt allerdings eine Geschichte, die ohne weiteres in Strausberg spielen könnte. Oder schlimmer – die sich dort zugetragen hat: Ein kleiner Junge wurde über Monate hinweg grausam gequält. Einige wussten es, viele ahnten es – aber niemand unternahm etwas.

In der vergangenen Woche verurteilte ein Gericht den Peiniger des heute zweieinhalbjährigen Pascal zu elf Jahren Haft. Die Mutter des Kindes muss für drei Jahre ins Gefängnis, weil sie ebenso wegschaute wie Verwandte, Freunde, Ärzte, Polizisten und Jugendamtsmitarbeiter. Während der Gerichtsverhandlung kamen nicht nur die zahlreichen körperlichen Verletzungen des Jungen zur Sprache, sondern auch die seelische Grausamkeiten: Da wurde der damals Einjährige vom Lebensgefährten der Mutter gezwungen, sich auf die Erwachsenentoilette zu setzen. „Jedes kleine Kind hat furchtbare Angst vor diesem großen tiefen Loch“, sagte der Vorsitzende Richter. Pascal hat nur leise vor sich hingewimmert – er wusste, dass es Schläge hageln würde, wenn er schrie. Er zitterte schon, wenn sein Peiniger die Wohnung betrat. Diese „Hilferufe“ waren eigentlich nicht zu überhören, auch wenn der Junge noch niemandem von seiner Not erzählen konnte.

Gerade deshalb fand der Vorsitzende Richter Ulrich Gräbert so deutliche Worte für jene, die das Martyrium des Kindes wenn schon nicht verhindern, so doch hätten verkürzen können: Ärzte, die Verletzungen ignorierten, weil sie sich Unannehmlichkeiten ersparen wollten. Oder Polizisten, die – so unglaublich es klingen mag – einer Anzeige des leiblichen Vaters von Pascal einfach nicht nachgingen. Vor allem aber die Mitarbeiter des Strausberger Jugendamts, die Hinweise ebenso ignorierten wie die gerichtlich angewiesenen Kontrollen in der Familie.

Wer die Ursachen für so viel Gleichgültigkeit finden will, muss in Strausberg nicht lange suchen. „Das ist eben Milieu“ hieß es schon im März, als der Junge nur noch durch eine Notoperation gerettet werden konnte. Aber eine solche „Begründung“ kann eine Gesellschaft, die sich zivilisiert nennt, nicht hinnehmen. Deshalb gibt es ja Jugendämter, Familiengerichte und die Polizei. Wenn alle versagen, muss etwas faul sein – möglicherweise nicht nur in Strausberg. Auch deshalb muss der Fall lückenlos aufgeklärt werden.

Pascal begeht im Frühling nächsten Jahres seinen dritten Geburtstag. Er wird nach den heutigen ärztlichen Prognosen nie laufen lernen, nie auf einem Karussell sitzen, nie eine Zuckertüte in den Armen halten können. Sein Gehirn kann die lediglich reflexhaften Reaktionen des Jungen auf seine Umwelt nicht differenzieren. Pascal würde auch jenen Mann anlächeln, der ihm sein bewusstes Leben zerstörte.

Rückgängig zu machen ist das nicht mehr. Es wird sich auch nie vermeiden lassen, dass pervertierte Menschen hilflose Kinder misshandeln. Aber es kann und muss verhindert werden, dass dann alle wegschauen. Wer damit gar seine beruflichen Pflichten verletzt, der muss die Konsequenzen tragen. Das sind wir Erwachsene den Pascals und den Lukas dieser Welt einfach schuldig. Und den vielen misshandelten Kindern ohne Namen, für die es heute vielleicht noch nicht zu spät ist.

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