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Brandenburg: Normal, aber nicht selbstverständlich

Sandra Dassler

Die Frauen und Kinder waren völlig erschöpft, als sie im Frühsommer 1945 nach tagelangen Zugfahrten und Fußmärschen das Dorf am Ostufer der Oder erreichten. Sie kamen aus Ostpolen, das im Zuge der in Teheran und Jalta beschlossenen Westverschiebung Polens an die Sowjetunion abgetreten wurde. Das Dorf war gerade geräumt worden, die deutschen Frauen und Kinder saßen noch vor ihren Häusern und warteten auf den Abtransport nach Westen. „Geht doch hinein“, sagten sie zu den polnischen Vertriebenen. Die zögerten: „Aber es sind doch eure Häuser.“ Dann weinten Polen und Deutsche gemeinsam über den Verlust ihrer Heimat.

Geschichten wie diese gingen dem Oberbürgermeister von Frankfurt (Oder) Martin Patzelt (CDU) gestern durch den Kopf: „Wir sollten dankbar sein, dass wir 60 Jahre nach dem furchtbaren Krieg schon wieder so normal miteinander umgehen können“, sagte er. Und fand es gar nicht selbstverständlich, dass er gemeinsam mit seinem polnischen Amtskollegen die große Torte zum 60. Geburtstag von Slubice anschneiden durfte. Tatsächlich haben die Wunden des Krieges und der Nachkriegszeit gerade an Oder und Neiße lange nicht heilen können – auch, weil das Thema in der offiziellen Geschichtsschreibung Polens und der DDR bis zum Jahr 1990 kaum erwähnt wurde. Hinzu kamen die Empörung vieler Polen über Forderungen der Heimatvertriebenen und die Angst der Menschen östlich der Oder, dass die Deutschen eines Tages wiederkommen würden.

Umso höher ist zu bewerten, dass Slubice seine Geburtstagsfeier in diesem Jahr vom April auf den Mai verschob, um sie in die Eröffnungsfeier des Deutsch-Polnischen Jahres einzubetten. Die Slubicer setzen damit ein Zeichen. Sie haben inzwischen so viel Selbstbewusstsein, dass sie ihre gemeinsamen Wurzeln mit Frankfurt als Chance begreifen: Slubice hat sich dank des Handels mit Deutschland und der Fördergelder aus Brüssel gut entwickelt. Die Stadtparlamente beraten oft gemeinsam, die Studenten pendeln zwischen der Europa-Universität Viadrina und dem Collegium Polonicum hin und her. Das ist inzwischen normal. Aber – und daran erinnern Jahrestage wie der 8. Mai – es ist nicht selbstverständlich.

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