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Abschiedsrede im Wortlaut: Müntefering: „Wir waren einfach nicht interessant genug“

Im Wortlaut dokumentiert: Franz Münteferings Abschiedsrede als SPD-Vorsitzender.

Liebe Genossinnen und Genossen, der Zeitraum für meinen Rechenschaftsbericht, das vergangene Jahr, war vollgepackt mit Wahlkampf pur. Das Ergebnis, die schwere Niederlage vom 27. September, und unsere Situation als SPD heute lässt sich aber mit dem Verlauf dieses einen Jahres nicht ausreichend erklären, auch wenn es in diesem Zeitraum des Jahres in den Ländern und in den Kommunen zum Teil Wahlergebnisse gegeben hat, die ganz anders als das waren, was wir auf der Bundesebene eingefahren haben. Das zeigt im Übrigen: Substanz ist da. Glückwunsch an all diejenigen, die in diesem Jahr erfolgreicher waren als der Bund.

Ich will mich hier aber weitgehend auf die Bundespolitik, die Bundespartei, konzentrieren, und ich denke, ihr erwartet das auch.

Im Rhythmus der Demokratie ist ein Wechsel per Wahlzettel von der Regierung in die Opposition oder umgekehrt nichts Ungewöhnliches. Wir haben es als SPD vor allem auf der Bundesebene aber mit einem Ergebnis zu tun, das mit diesem normalen Auf und Ab der Demokratie allein nicht beschrieben werden kann. Die Dimension der Niederlage ist das Erschreckende. So etwas bildet sich nicht in einem Jahr und nicht einmal in einer Legislaturperiode heraus. Der Wille und die Bereitschaft, genauer hinzusehen, tiefer nach den Gründen zu schürfen, ist deshalb verständlich und nötig.

Dieser Parteitag heute, morgen und übermorgen ist nun die erste große Gelegenheit dazu: offene Aussprache, Analyse, Orientierung, Neuaufbau. Wir haben in den vergangenen Wochen schon gemerkt: Das braucht seine Zeit. Das ist auch nicht in diesen drei Tagen in Dresden abschließend zu behandeln, aber dieser Parteitag kann uns voranbringen; er kann Weichen stellen - das muss er auch.

Das muss uns, liebe Genossinnen und Genossen, miteinander gelingen, damit am Sonntag, wenn wir hier auseinandergehen, klar ist: Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands geht mit einer neuen Führung, mit klarem Arbeitsprogramm und fähig zum politischen Handeln ohne Hektik und doch unverzüglich geschlossen und entschlossen ans Werk - in Berlin und im Land, überall, wo wir Regierungen und Parlamentarier stellen, und natürlich als Partei. Dies muss am Sonntag die gemeinsame Botschaft sein. Unsere Genossinnen und Genossen zu Hause, die in diesen Tagen gespannt auf uns blicken, müssen sehen: Sie reden über die Sache, sie machen das verantwortungsbewusst, und sie meinen das ernst. Die politische Konkurrenz muss erfahren: Die SPD ist da. Sie erspart sich selbst kein unangenehmes Suchen nach den Gründen für das Wahldesaster, aber sie zieht sich auch nicht als Selbstfindungsgruppe ins Jammertal zurück. Sie greift ein, und sie greift an.

Anlass gibt es reichlich: Schwarz-Gelb zeigt sein wahres Gesicht. Sie knicken den Sozialstaat, spalten die Gesellschaft, predigen Wasser und saufen selbst Sekt. Unsere Fraktion hat entsprechend hart gekontert. Morgen wird das sicher auch noch Gegenstand unserer Debatte hier sein.

Vorneweg ist uns klar, liebe Genossinnen und Genossen: Die SPD ist kleiner geworden, aber die sozialdemokratische Idee nicht. Schon gar nicht ist sie am Ende. Unsere Werte und Ziele stehen.

Wir stehen zu unseren Werten und zu unseren Zielen, und wir stehen auch zu dem, der diesen langen Wahlkampf des vergangenen Jahres unter erschwerten Bedingungen als Kanzlerkandidat mutig geführt hat. Lieber Frank, du hast keine windigen Steuersenkungen versprochen. Du hast gute Arbeit für alle in den Mittelpunkt deines Deutschlandsplans gestellt, du hast Arbeit, Bildung und Nachhaltigkeit als die Triebfedern des Fortschritts beschrieben, und du hast den handlungsfähigen Sozialstaat gefordert. Das alles gilt. Du musst kein Wort zurücknehmen. Wir danken dir für diesen Einsatz, lieber Frank.

Lieber Frank, als Oppositionsführer im Bundestag hast du die ersten Stopper gegen Merkel und Co. gesetzt. Glückauf! Da gibt es noch viel zu tun.

Wir haben bei dieser Wahl bei vielen Vertrauen verloren und fragen uns selbstkritisch, weshalb das so ist. Wir bleiben aber auch selbstbewusst; denn in unserem Land und in der Welt sehen wir, wie wesentlich und unverzichtbar das Soziale und das Demokratische sind. Die Idee stimmt. Wir respektieren die Entscheidung der Wählerinnen und Wähler. Wir nehmen unsere Aufgabe als Opposition an, und wir nehmen sie ernst. Als Demokratinnen und Demokraten wissen wir: Siege in der Demokratie gelten auf Zeit, Niederlagen aber auch. Der 27. September 2009 ist ein Datum mit einem bitteren Ergebnis, es ist aber nicht das Letzte. Die Demokratie geht weiter; die SPD hat Ausdauer. Wir sind kampffähig, und wir sind kampfbereit; wir kommen wieder, liebe Genossinnen und Genossen.

Daran werde ich mich in dieser Rede halten: Anmerkungen zu den Ursachen, ohne Versuch, das Kapitel abzuschließen, wissend, dass es eine einfache Antwort nicht gibt. Ich will Gedanken zu dem beitragen, was politisch in Deutschland passieren muss und was die SPD dazu beitragen kann. Dies ist ein Einstieg in die Debatte - so, wie es im Leitantrag auch steht.

Im Wahlkampf selbst haben wir viel Zustimmung erfahren: zahlreiche Besucherinnen und Besucher, volle Plätze, volle Säle, ehrlicher Beifall, keine Aggressionen. Zu viele Menschen haben aber dann doch die anderen gewählt oder gar nicht gewählt - ohne besondere Emotionen. Wir waren für die Wählerinnen und Wähler kein Feindbild, aber wir waren einfach nicht interessant genug: nicht für potenzielle Aufsteiger, nicht für solche, die sich vor Abstieg fürchten. Sie haben anderen mehr vertraut oder niemandem, oder sie hatten andere Prioritäten als wir. Das klingt harmlos und leicht reparabel, ist es aber nicht. Im Gegenteil: Wir waren für zu viele die von gestern, aus der Mode. Zu undeutlich war, mit wem wir was denn würden durchsetzen können.

Die Niederlage, liebe Genossinnen und Genossen, war selbstverschuldet, teils aber dem Zug der Zeit geschuldet, der in eine andere Richtung fuhr und der noch nicht gestoppt ist. Eine Mehrheit der Wählerinnen und Wähler hat ihre Stimme freiwillig denen gegeben, die mit dem Finanzkapitalismus locker umgehen und die den ganzen Vorgang für einen Betriebsunfall, aber nicht für eine Mischung aus Zockerei und Gangstertum halten. Haben die, die so gewählt haben, das missverstanden, oder war das ihr Kalkül? Jedenfalls sind wir uns da einig: Wir, die deutsche Sozialdemokratie, gibt keine Ruhe, bis wir diesen Kapitalismus gezähmt haben. Was auch immer die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler im Augenblick noch gnädig sein lässt mit den Marktradikalen: Wir wollen, dass dieser Kapitalismus gezähmt wird - in Deutschland und weltweit.

Manche vermissten bei uns in den Jahren die soziale Sicherheit, andere den Wandel, manche die Gerechtigkeit, andere die Innovationen, manche die richtige Mischung von allem.

Was uns damals den fulminanten Wahlerfolg brachte, ging auf der Strecke schief. Dabei haben beide Aspekte ihre Geschichte. Dass soziale Sicherheit im Wandel nötig ist und dass für die Gestaltung des gesellschaftlichen Wandels dauerhaft Sicherheit ermöglicht wird, ist beides richtig.

Innovation und Gerechtigkeit - damit sind wir 1998 gestartet. Aber wir haben uns nicht immer klug genug, nicht klar genug und nicht rechtzeitig genug darüber abgestimmt, was mit Innovation und was mit Gerechtigkeit genau gemeint ist und wie sich beides zueinander verhält. Wie aus einem vernünftigen Miteinander von Innovation und Gerechtigkeit eine Politik werden kann, die auch noch mehrheitsfähig ist und Vertrauen schafft. Genau das muss aber geleistet werden. Auf einen der Aspekte zu verzichten, liebe Genossinnen und Genossen, macht die Sache nicht besser. Innovation ist nicht entbehrlich. Gerechtigkeit ist nicht entbehrlich. Nicht der Wandel und nicht die Sicherheit sind entbehrlich. Wer sich aus Bequemlichkeit auf den einen oder anderen Teil der politischen Aufgabe reduziert, der spränge zu kurz.

Drei kurze Beispiele in dem Zusammenhang: Kinderarmut. Ja, Kinderarmut muss verschwinden. Das setzt vor allem voraus, dass die Eltern Arbeit haben, gute Arbeit, gut bezahlte Arbeit - Alleinerziehende natürlich auch. Wer schafft diese Arbeit? Wir müssen das machen, liebe Genossinnen und Genossen.

Kinderarmut bekämpfen wir aber auch mit genügend qualifizierten, gebührenfreien Ganztagseinrichtungen, in denen die Kinder- darunter viele Einzelkinder- unter Kindern sind   das ist nicht unwichtig. Einrichtungen, in denen es ordentliches Essen gibt und ihnen bei den Hausaufgaben geholfen wird und sie an Sport und Kultur herangeführt werden. Aber das muss alles bezahlt werden. Wir sagen, es muss von der Gemeinschaft bezahlt werden.

Stichwort Altersarmut: Wir wollen der Altersarmut vorbeugen. Die von uns eingeführte Grundsicherung ist ein richtiger Schritt, aber nicht die Lösung des Problems. Altersarmut vorbeugen setzt auch voraus, dass Deutschland Wohlstandsland bleibt, damit wir soziale Gerechtigkeit auf hohem Niveau sichern können. Dazu ist Hochleistung erforderlich. Wir müssen Hochleistungsland bleiben und früh genug hinreichend investieren in Wissen und Können, in Bildung, Forschung und Entwicklung. Dass wir weiter gegen Niedriglohnstrategien kämpfen, ist wichtig. Billig können andere Länder besser. Niedriglöhne führen direkt und indirekt in die Altersarmut hinein. Auch deshalb kämpfen wir dagegen, liebe Genossinnen und Genossen.

Stichwort Rentensicherheit: Die wird sich zukünftig noch stärker an der Leistungsfähigkeit des Sozialstaates festmachen. Ein Viertel der Renten zahlen wir aus der Steuerkasse, 82 Milliarden pro Jahr, bald 30 Prozent unseres Bundeshaushalts. Sonst lägen die Rentenversicherungsbeiträge nicht bei 19,9 Prozent, sondern bei 27 Prozent. Die Steuer- und Haushaltspolitik von Schwarz-Gelb gefährdet unseren Weg der Stabilität, auch der inneren. Dass wir nicht mehr zehn Jahre Rentenanspruch realisieren wie 1960, sondern bald 20 Jahre im Durchschnitt – wachsend  , hat Auswirkungen, zumal die Zahl der nachwachsenden Beitragszahler weniger wird. Und sie kommen ja auch nicht mehr mit 16 in den Beruf, sondern im Durchschnitt mit 21. Dass wir mit der Anhebung des faktischen Renteneintrittsalters gut vorangekommen sind, hilft: 1998 waren nur noch 38 Prozent der über 55-Jähringen in Arbeit. Heute sind es fast 20 Prozent mehr. Das entlastet die öffentlichen Kassen.

Klar ist, dass wir konsequent den Weg gehen müssen, den wir aber auch beschrieben haben und der Gegenstand unseres Regierungsprogramms ist, der auf Individualisierung des Übergangs ins Rentenalter setzt, der aber die pauschale Frühverrentung ausschließt, wie es in den 80er- und 90er-Jahren zu Lasten der sozialen Sicherungssysteme üblich geworden ist.

Kinderarmut, Altersarmut, Rentensicherheit - Herausforderungen für jeden, der soziale Gerechtigkeit will. Denn man merkt schnell: Ohne nachhaltige ökonomische Prosperität würde das Niveau der sozialen Gerechtigkeit bald sehr bescheiden sein.

Liebe Genossinnen und Genossen, die 90er-Jahre waren überwiegend schöne und ruhige, aber auch selbstvergessene Jahre. Die Teilung der Welt in Deutschland war zu Ende, die Angst vor dem Krieg war weg, Millionen mehr Menschen gewannen mehr Freiheit, Deutschland gewann die Einheit. Alles war gut. Aber alles schien auch leicht, das war verführerisch. Momentane Sicherheit war da, aber keine nachhaltige. Der Wandel wurde verschlafen, die Bedingungen für dauerhafte Prosperität wurden nicht geschaffen, die für nachhaltige Gerechtigkeit auf hohem Wohlstandsniveau auch nicht. Die Sozialsysteme wurden missbraucht, statt ehrlich mit Steuern auf Einkommen und Vermögen die Finanzierungsbedarfe zu sichern. Bildung und Integration ließ man schleifen. Die Sozialversicherungsbeiträge stiegen von rund 35 Prozent auf rund 43 Prozent. Es war höchste Zeit, dass Kanzler Kohl aus seiner Selbstgefälligkeit abgewählt wurde und wir unsererseits mit den Grünen den Zug unter Dampf setzen konnten. Es gab verdammt viel aufzuräumen und zu tun.

Für uns als Partei war das eine harte Aufholjagd seit 1990. 1990 waren CDU/CSU mit 43,8 Prozent aus den Bundestagswahlen gekommen, wir mit 33,5 Prozent. Die Differenz zwischen uns lag bei 10,3 Prozentpunkten. Die Union hatte 21 Millionen Stimmen, wir 15,5 Millionen. 1998 lagen wir dann 5,8 Prozent vor der Union: in acht Jahren von minus 10,3 hinter auf plus 5,8 vor der Union. Heute liegen SPD und Union zueinander wie 1990, beide aber auf deutlich niedrigerem Niveau. Die Differenz beträgt wieder 10,8 Prozent, bei mit rund 5 Millionen Stimmen weniger als 1990. Das ist eine zentrale Botschaft dieser Bundestagswahl. Ist das ein Ergebnis auch der großen Koalition? Oder ist das der Megatrend gegen Volksparteien?

Viel ist uns in den elf Jahren nach 1998 mit Gerhard Schröder und in der großen Koalition gelungen: Bei der neuen Energiepolitik, bei mehr Toleranz gegenüber Minderheiten, bei großen Teilen der Agenda 2010 und beim Nein zum Irakkrieg ist das auch unbestritten. Sagen muss man es trotzdem einmal. Man muss auch sagen, dass manches allerdings misslungen ist. Das alles erklärt das Wahlergebnis aber auch nur teilweise, liebe Genossinnen und Genossen.

Ich bleibe dabei: Es war auch unter den gegebenen schwierigen Umständen richtig, die Chance zum Regieren 1998 und zum Mitregieren 2005 zu nutzen. Es war gut für unser Land und gut für uns als Partei.

Die gesellschaftlichen Bedingungen für Politik jedenfalls haben sich rasant weiterentwickelt in diesen 20 Jahren: die große Finanzkrise, in der wir heute noch gefangen sind, die Dynamik in der strukturellen Veränderung der Arbeitswelt, die Verhärtung der Integrationsprobleme, die Folgen der demografischen Entwicklung. All das gehört dazu, auch das Ausmaß von Globalität und die neuen Kommunikations- und Informationstechnologien, die die Lebenswirklichkeit verändern und die das Lebensgefühl mindestens der jungen Generation tief prägen. Diese Entwicklungen und andere sind nicht negativ an sich, aber sie müssen politisch und gesellschaftlich eingeordnet und gestaltet werden. Mit blanker Routine ist ihnen nicht beizukommen, mit Nostalgie auch nicht.

Wer auf der Höhe der Zeit sein will, liebe Genossinnen und Genossen, muss das alles bedenken. Er muss zum Beispiel bedenken, wie sehr das Thema von persönlichem Aufstieg und Abstieg die Gesellschaft insgesamt und uns als Partei berührt. Starke Worte und lockere Versprechungen helfen da nicht weiter. Die Lebenswirklichkeit ist anders geworden. Wir wollen, dass es den Menschen gut geht. Deshalb wollen wir gesellschaftlichen Fortschritt. Aber kann solcher Fortschritt immer auch individueller Aufstieg sein, kann er mindestens Aufstiegschance sein für jede Einzelne und für jeden Einzelnen? Im Wiederaufbau des vom Krieg zerstörten Landes gab es damals Wirtschaftswunder, kleine und große, für viele auch ganz persönlich. Es gab Aufstieg. Für das Heer der Volksschüler gab es die Chance, mehr Bildung und damit auch berufliche Perspektiven zu erfahren, viele davon über den zweiten Bildungsweg. Alles hatte die Tendenz nach oben und nach vorn. Die Zukunft lag scheinbar glatt vor uns. Mit 25 glaubte man zu wissen, dass mit 60 eine gute Rente sicher ist. Es gibt auch heute noch Aufstiegschancen, aber es gibt keine Garantie mehr, dass die Anstrengung um Aufstieg sich auszahlt und dass die Langzeitrechnung stimmt.

Das merken alle. Es gibt keine Garantie, dass die Leistung sich lohnt, um diese so zutreffende wie auch missbrauchte Formel und Parole aufzunehmen.

Liebe Genossinnen und Genossen, "Leistung muss sich wieder lohnen" - ein paar Worte speziell dazu, denn darin liegt ein Schlüssel zu allem. In diesem Satz spiegeln sich zwei Welten: Natürlich soll der, der sich anstrengt, etwas dafür bekommen: einen gerechten Lohn. Seine Anstrengung soll nicht unbelohnt sein. Leistung muss sich lohnen, das ist sozialdemokratisch. Aber da nun viele Plätze und obere Etagen besetzt sind und die Aufstiegswege schmaler werden, wird der Aufstiegskampf härter. Formal ist alles möglich, aber praktisch werden die Chancen zugeordnet - frühe und wirkungsvolle Aussortierung! Zum Beispiel durch Zuordnung zu den Schulen des gemeinen Volkes oder zu den hohen Schulen derer, die es sich leisten können - altmodische Begriffe mit altbekannter Wirkung. Leistung muss sich lohnen, das heißt für uns: Garantie gibt es nicht, aber alle müssen die Chance haben. Alle müssen die Chance haben, etwas zu leisten und dafür eine gerechte Belohnung zu bekommen. Und Lohn heißt hier mehr als nur Geld, liebe Genossinnen und Genossen!

Im marktradikalen Denken heißt "Leistung muss sich lohnen" etwas anderes, nämlich: Die Privilegierten müssen privilegiert bleiben. Oben bleibt oben, unten bleibt unten. Wir wollen das so definitiv nicht. Aber, liebe Genossinnen und Genossen, keine Illusion: Wie die Mehrheit im Lande darüber denkt, das ist nicht eindeutig. Wir haben Grund, unsere Position klarzumachen und für sie zu werben und zu streiten.

Viele Eltern fragen sich heute, was sie tun müssen, damit ihre Kinder es wenigstens nicht schlechter haben als sie. Die Eltern haben recht; denn für diese Kinder ist oft schon der Einstieg in den Beruf, der Einstieg in den Aufstieg, schwierig - ohne Verlässlichkeit, für viele deprimierend, auch für solche, denen es an Bildung und Wissen weiß Gott nicht mangelt. Andere sind faktisch Aufsteiger oder fühlen sich als solche und haben Angst, dass das nicht so bleibt: bei Arbeitslosigkeit, bei Krankheit, irgendwann im Alter. Sie kennen Beispiele für solche Vorgänge, die sie als Abstieg empfinden. Klar, dass die Abschaffung des Arbeitslosenhilfesystems und die Änderungen bei der Rente die Sorgen erhöhen. Das hat mit der generellen Unsicherheit zu tun, mit Abwesenheit von Zuversicht, mit mangelhafter Zukunftserwartung, sehr konkret mit hoher Arbeitslosigkeit. Zur Antwort sind Bildung und Integration und Sozialstaat gefordert. Und der Kampf gegen Arbeitslosigkeit: Gute Arbeit für alle hat die absolute Priorität. Die Demografie muss gestaltet werden, die Spaltung der Gesellschaft eingedämmt. Alles richtig- wichtig ist das alles. Aber um Prioritätensetzung werden wir nicht herumkommen, nicht hier und nicht in Zukunft. Und die Priorität heißt: Gute Arbeit zuerst. Das ist die Basis für die Zukunft des Landes und für soziale Sicherheit auf hohem Niveau auch in Zukunft, liebe Genossinnen und Genossen.

Diese gesellschaftliche Entwicklung, die ich kurz skizziert habe, kann sonst eine Gefahr für die Fortschrittsfähigkeit unseres Landes überhaupt werden. Eine Gesellschaft, die sich zufrieden gäbe mit dem, was ist, deren primäres Lebensziel die Verhinderung von Abstieg wäre, verlöre die Kraft und den Mut zur Gestaltung des Fortschritts. Wer auf Halten spielt, wird nicht gewinnen, übrigens auch keine Mehrheiten bei Wahlen. Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten hat das Konsequenzen: Da wir den Aufstieg nicht leichtfertig und massenhaft versprechen und den so definierten Abstieg nicht überall verhindern können, betrachten uns potenzielle Aufsteiger als uninspiriert und uninteressant, und die, die sich vor Abstieg fürchten, als nicht hinreichend sozial. Die Aufklärung dazu ist uns bisher nicht hinreichend gelungen, die Debatte auch nicht. Diese ehrliche Debatte bleibt uns nicht erspart, nicht heute und nicht in den nächsten Monaten.

Diese Wahrheiten, liebe Genossinnen und Genossen, reißen Wunden auf. Denn so einfach ist das mit der Gerechtigkeit nicht. Mindestens die Chancengerechtigkeit ist tangiert - und die Verteilungsgerechtigkeit und die Generationengerechtigkeit. Was ist da vernünftig, was ist nur erwünscht? Was ist möglich, was ist nur erstrebt? Neu sind uns diese Herausforderungen nicht, und zu all dem gibt es Antworten auch in unserem Regierungsprogramm vom 7. Juni für diese neue Legislatur. Das Wahlergebnis macht die Antworten, die wir dort gegeben haben, nicht falsch. Sie müssen Grundlage unserer praktischen Politik sein. Eine weitergehende umfassende perspektivische Antwort ist aber trotzdem nötig. Sie braucht Zeit. Sie muss im Zentrum der Initiative "Gut und sicher leben" stehen, die im Leitantrag des Parteivorstandes vorgeschlagen ist. Situative Geschicklichkeit reicht nicht für gute Politik. Das zeigt die Merkel-Masche: Für die Beliebigkeit ihres Politikansatzes wird unser Land mittelfristig teuer bezahlen. Land ist zu allgemein, die Schwächeren werden dafür bezahlen!

Wir wollen ein Konzept für dieses Land - auf die Strecke, auf die nächsten zehn, zwanzig Jahre. Wir wollen miteinander, auch wenn die Diskussion schwerfällt, den Weg finden, dieses Land in eine gute Zukunft zu führen. Wir wollen nicht in den Tag hinein leben nur des Augenblicks wegen, so wie diese Bundesregierung es jetzt schon wieder anfängt. Wir müssen da als Sozialdemokraten den Punkt setzen und den Ehrgeiz haben, dieses Land auch perspektivisch zu steuern.

In dieser Debatte "Gut und sicher leben" werden wir auch noch einmal auf die Formel von Fordern und Fördern stoßen und auf deren Bedeutung in einer demokratischen Gesellschaft. Das Fördern macht uns meistens mehr Freude als das Fordern. Das Fordern geht uns oft schwer über die Lippen, aber beides ist nötig und beides ist gerecht. Es ist auch Ausdruck von Respekt vor allen Mitgliedern unserer Gesellschaft. Jeder und jede soll aktiver Teil sein können, geachtet und anerkannt, befähigt zu Selbsthilfe und angehalten, den eigenen Beitrag zum Gelingen der Gesellschaft beizusteuern, je nach den individuellen Möglichkeiten. Die Botschaft "Du kannst nichts, setz dich hin, sei still, wir geben dir Stütze, stör uns nicht" ist keine sozialdemokratische Botschaft. Wir kämpfen um jeden einzelnen Menschen und versuchen, ihm die Chance zu geben, in diese Gesellschaft, in den Arbeitsmarkt wieder hineinzuwachsen.

All dies, die Fragen von Aufstieg und Abstieg und die von Fordern und Fördern, gehören unter eine gemeinsame Überschrift, die da heißt: Gesamtverantwortung. Das war und bleibt die wichtige Erfahrung aus der Regierungszeit von Helmut Schmidt. "Pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken" hat Schmidt das genannt. Ökonomische und ökologische und soziale Verantwortung über den Tellerrand der nationalen Grenzen hinaus - ein großer Anspruch, einer, der der Sozialdemokratie angemessen ist.

Gesamtverantwortung übernehmen und sich dazu bekennen, das zeichnet Volksparteien aus. Linke Volkspartei müssen wir bleiben, oder wir sinken weiter und dauerhaft ab. Ob Volksparteien generell eine Zukunft haben, ist eine offene Frage. Ich hoffe es von Herzen, in unserem Interesse, auch im Interesse der Demokratie überhaupt. Die Chance, liebe Genossinnen und Genossen, haben wir. Ich glaube an die SPD. Keine Partei kann mehr und besser als wir diese Gesamtverantwortung für unser Land tragen. Das wollen wir auch wieder haben, das  Vertrauen der Menschen für diese Herausforderung.

Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind gut beraten, uns darauf zu besinnen und daran festzuhalten. Richtig linke Volkspartei geworden sind wir vor 50 Jahren mit Godesberg. Das war der Schritt von der gefühlten Arbeiterpartei zur erklärten Volkspartei. Das hat uns bald danach in die Regierungsfähigkeit gebracht, das hat uns Gestaltungskraft gegeben und Vertrauen erobert. Nur Volksparteien, liebe Genossinnen und Genossen, können ein Bollwerk sein gegen die latente Berlusconisierung der Demokratie, in der wir inzwischen nicht nur in Italien anzukommen drohen, in der Politik gerne zum gruppendynamischen Schauspiel mit wechselnden Helden drapiert wird, zum schalen Event, unbestimmt und schillernd, ohne Wahlkampf, weil ohne Richtung, ein dauerndes Festival mit schwarzem Samt auf rotem Teppich. Hofberichterstatter finden sich, Hofnarren auch. So ist das, was da im Kommen ist. Wir wollen nicht so sein, wie sich das da abzeichnet, liebe Genossinnen und Genossen.

Mit partikularistischem Ansatz ist diese Entwicklung nicht zu stoppen. Die Volksparteien sind schon ziemlich weit auf der Rutsche gezogen und geschoben. Vorsicht! Denn der Hang zum Partikularen verstärkt sich in der Gesellschaft und in der Politik ohnehin, und das seit geraumer Zeit. Die Mobilität wirkt dabei kräftig mit. Die Zahl der Partikularparteien und  gruppen nimmt zu. Sie bedienen Ausschnitte von Politik und Gesellschaft. Der Populismus der FDP und der Partei Die Linke ist auf unterschiedlichen Flügeln in gleicher Weise Ausdruck davon. Dabei behaupte ich nicht, dass dort die platte Egozentrik herrscht. Richtig ist auch: Die Grenzen sind fließend. Aber die Tendenz ist brandgefährlich. Und die Tendenz ist eindeutig.

Wir hatten uns in Deutschland über Jahrzehnte daran gewöhnt, dass von zwei großen Parteien bzw. Blöcken zunächst einmal in ihnen selbst die Verantwortung für das Ganze definiert, abgestimmt und übernommen wurde. Jetzt sitzen sechs Parteien und fünf Fraktionen im Bundestag. Man darf zur Zeit vermuten: Eher werden es mehr als weniger. Das prägt die politische Landschaft neu. Kompromisse, die früher innerhalb der großen Volksparteien erstritten und vereinbart wurden, müssen nun nach Wahlen im offenen Koalitionsringen zustande kommen. Wenn jeder mit jedem kann, ist alles denkbar und alles immer weniger sicher. Die Diskrepanz zwischen Wahlprogramm und Koalitionsvereinbarung wird von Wahl zu Wahl augenscheinlicher. Das alles ist nicht undemokratisch, aber es relativiert die Bindungen an Parteien und macht die Aufgabe für Volksparteien schwieriger, eine politisch stringente Linie zu halten. Es kostet Vertrauen in der Partei und öffentlich.

Eine Partei, die SPD, beschließt 2005 ihr Wahlprogramm   fast einstimmig  , dann auf einem Parteitag den Koalitionsvertrag   auch fast einstimmig  , sie akzeptiert die Logik der Situation und sagt Ja zum Regieren. Aber sie ist im Herzen unglücklich und kritisiert, dass sich die Handelnden an Beschlüsse halten, die man auf dem Parteitag gemeinsam gefasst hat. Was nun? - Kein Wunder jedenfalls, dass die Wählerinnen und Wähler das alles, vor allem aber uns selbst, nicht recht verstehen, liebe Genossinnen und Genossen! So ist es.

Dass darüber hinaus aus loyalen Flügeln der SPD mit zentristischer Grundstimmung teilweise verselbstständigte Parteipartikel zu werden drohen, mit Organisations- und Finanzstruktur auch vertikal, absorbiert zusätzlich Kraft und Geschlossenheit. Wenn gewählte Gremien nicht mehr der Ort sind, an dem Meinungen offen ausgetauscht und in demokratischer Streitkultur Entscheidungen gefunden werden, sondern dies systematisiert in Vorgesprächen geschieht, dann reduziert das die Kraft zur Gesamtverantwortung weiter. Die SPD laboriert außerhalb und innerhalb an diesem Prozess der Partikularisierung. Diese fatale Entwicklung wenigstens jetzt in der Opposition und in dieser Lage zu beenden, wäre verantwortlich, liebe Genossinnen und Genossen. Für alle, die es angeht: Lasst diese Art von Flügelei! Lasst diese Art von Flügelei!

Sie wäre eine Gefahr auch für die, die jetzt Verantwortung übernehmen.

Im Wahlkampf, liebe Genossinnen und Genossen, wurde plötzlich die Freiheit im Internet zum Thema. Fragen tauchten auf: Was war gemeint? Eine totale, unbegrenzte Freiheit? Eine, die kriminelle Nutzung des Internets ausschließt oder nicht ausschließt? Eine, die das Urheberrecht achtet oder es nicht akzeptiert? - Die Debatten dazu mit den Protagonisten waren spannend und wirklich qualifiziert. Aber Studiengebühren, Mindestlöhne und Kopfpauschale waren in diesen Kontakten ohne jeden Belang und als ebenfalls wichtige politische Aspekte und tragende Argumente für eine Stimmabgabe nicht vermittelbar. 847.870 Stimmberechtigte haben am 27. September ihre Zweitstimme den Piraten gegeben: 2 Prozent. Das sind 9 Prozent der Stimmenzahl, die wir als SPD bekommen haben. Welche Antwort müssen wir finden? Was ist die linke Antwort, was ist die rechte Antwort, was ist die richtige Antwort? - Wir werden uns damit noch intensiver zu befassen haben.

Es ist so, liebe Genossinnen und Genossen: Unsere Demokratie ist komplizierter geworden - nicht erst jetzt; das ist richtig. Aber niemand weiß, ob die Tendenz zu stoppen ist. CDU und CSU sind längst auch davon erfasst, nicht nur wir. Wir haben schon ein Stück gelernt. Die meisten von uns wissen, dass wir keine Staatspartei sind. Mindestens die CSU weiß es noch nicht. Sie wird es aber auch erfahren - jeden Tag mehr.

Übrigens, Genossinnen und Genossen: Die NPD hatte 210 000 Stimmen weniger als die Piraten, aber immer noch 635 525 zu viel! Die wehrhafte Demokratie bleibt gefordert! Auch das sage ich gerade noch einmal hier in Dresden.

Die Demokratie überhaupt bleibt gefordert. Vor 40 Jahren, am 28. Oktober 1969, hat Willy Brandt in seiner Regierungserklärung versprochen, dass wir mehr Demokratie wagen. Die Sozialdemokratie hat damals zusammen mit einer anderen FDP die Fenster in Deutschland aufgemacht und den Mief einer konservativ-reaktionären Zeit hinausgelassen. Wir haben geholfen, die Vergangenheit aus dem Verschweigen zu holen, auch und gerade da, wo sie besonders schwierig und anstrengend war. Und wir haben Liberalität und Toleranz auf die Tagesordnung gesetzt. Begann denn erst 1969 die Demokratie in Deutschland? - Nein. War vorher nicht Demokratie zwischen 1949 und 1969? - Doch.

„Mehr Demokratie wagen“ war keine Kritik am parlamentarischen System der Bundesrepublik, wie es verordnet, entstanden und gewachsen war. Aber es war die Botschaft der SPD: Für uns ist Demokratie mehr als ein verfasstes System. Wir wollen, dass Demokratie die Gleichwertigkeit der Menschen deutlich macht. Das ist die Grundlage für Demokratie nach unserem Verständnis. Das hat Brandt, das haben die Sozialdemokraten deutlich gemacht. Das war ein großer Fortschritt für das Land, den wir damals begonnen haben.

Heute regt "Mehr Demokratie wagen" nicht mehr so viele auf. Eher ist die Reaktion: Demokratie ist okay. Wir sind dafür. Demokratie haben wir doch. Was soll’s? Unsere Probleme sind doch ganz andere. - Das ist ein Irrtum. Die Wahrheit ist, liebe Genossinnen und Genossen: Es steht nicht so gut um die Demokratie, um die Wechselwirkungen zur sozialen Demokratie, die besonders groß ist, auch zu unserem Ansehen und zu unserer Wirkungskraft. Demokratie braucht neue Impulse, damit sie nicht im Formalen versinkt, damit sie nicht Konsumgift ist, sondern Bewegung.

"Mehr Demokratie wagen Teil 2" ist fällig. Wir von der Sozialdemokratie müssen das zu unserer Sache machen. Der Arbeitsvorschlag dazu im Leitantrag ist gut. Nehmt ihn ernst!

Willy Brandt hat sich über die bekannte Regierungserklärung hinaus oft mit dieser Thematik befasst. "Wir können nicht die perfekte Demokratie schaffen", sagte er. "Wir wollen eine Gesellschaft, die mehr Freiheit bietet und mehr Mitverantwortung fordert." Freiheit bieten und Mitverantwortung fordern. Er sagte auch: "Ich hätte auch fordern können: Mehr Freiheit wagen", und zwar mehr Freiheit durch mehr Demokratie in allen wichtigen gesellschaftlichen Bereichen. Ja, darauf kommt es an. Die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind dabei essentiell. Ich bin deshalb stolz, dass wir 2005 unseren Eintritt in die Große Koalition zwingend davon abhängig gemacht haben, dass Kündigungsschutz, Tarifautonomie und Mitbestimmung garantiert blieben. Damals wollten CDU/CSU etwas ganz anderes. Wir bleiben da auch jetzt hellwach und kampfbereit. Das gilt, liebe Genossinnen und Genossen!

Was heißt das noch "Mehr Demokratie wagen"? Demokratie ist: Wählen und sich wählen lassen. Ich bin gegen Wahlpflicht. Aber ich widerspreche nachdrücklich der wachsenden Attitüde, man könne sich der Verantwortung für das politische Geschehen durch Nichtbeteiligung entziehen, man könne außerhalb des gesellschaftlichen Spielfeldes sein. Man kann es nicht, liebe Genossinnen und Genossen! Passivität ist keine Entschuldigung, wenn etwas schiefgeht. Wir können Wählern und Nichtwählern ihre Verantwortung nicht abnehmen. Auch das ist ein Teil der Wahrheit. Es ist erlaubt, das zu sagen. Ja, es ist Teil der Demokratie, es zu sagen, liebe Genossinnen und Genossen, diesen Teil nicht zu verschweigen.

Manche behaupten, sie könnten nicht wählen, weil keine Partei 100 prozentig ist oder weil sich Parteien nicht unterscheiden. - 100 prozentig ist keine; das stimmt. Aber was heißt das schon? Wer eine 100 prozentige Partei haben will, der sollte keine zweite Person dazunehmen. Da geht es los.

Demokratie besteht aus Kompromissen. Kompromisse sind keine Schande. Jawohl, es gibt   das ist in Deutschland ein stehendes Wort   faule Kompromiss. Aber ich sage euch: Es gibt noch mehr faule Kompromissunfähigkeit , und deshalb muss man sagen: Kompromisse gehören zur Demokratie dazu.

Und was die Unterscheidbarkeit angeht: Sozialdemokratisches Rot und Schwarz-Gelb, das ist auch 2009 gut zu unterscheiden. Der Koalitionsvertrag von Schwarz-Gelb ist ein eindeutiger Beleg.

Zu wenige lassen sich selbst wählen. Manche, die es besser wissen, und vielleicht auch besser können, lassen sich nicht in eine Aufgabe hinein wählen, die erkennbar zeitaufwändig, begrenzt lukrativ und gesellschaftlich gering geschätzt ist. Das gilt für Europa- und Landesparlamente und auch für den Bundestag. Bei Kommunalwahlen gibt es längst ganz konkrete Lücken bei den Nominierungen. Kommunale Akademien und die Führungsakademie der SPD sind hilfreiche Ansätze und bewähren sich. Die Personalentwicklung auszubauen, ist sinnvoll, denn auch Politikmachen kann man lernen, über das unvermeidlich Autodidaktische hinaus.

Allerdings: Ohne Leidenschaft für die Sache geht es nicht. Nur sie führt über das Verwalten hinaus. Welche Leidenschaft meine ich? Die, die Hannah Arendt besser beschrieben hat, als es sonst jemand sagen könnte. Sie hat deutlich gemacht: Politik, das ist Liebe zum Leben. Ich finde, das ist das, was wir darstellen und was wir auch in Anspruch nehmen müssen. Wir wollen nicht irgendwelche abstrakten Konzepte über diese Gesellschaft stülpen. Wir wollen, dass die Menschen leben können, menschlich leben können. Wir wollen ihnen die Bedingungen dafür geben. Wir lieben das Leben, und so soll unsere Politik auch aussehen, im Interesse der Menschen. Wir wollen ihnen Mut machen. Das ist das, was wir wollen und was uns auszeichnet.

Liebe Genossinnen und Genossen, Demokratie braucht auch Parteien, gute Parteien. Parteien sind so gut wie ihre Mitglieder. Parteien sind nicht die Bremsklötze der Demokratie, sondern ihre Triebfeder. Einige Tausend Bürgerinnen und Bürger hatten wohl eben dieses Gefühl und sind in den vergangenen Wochen SPD-Mitglied geworden. Sie wollen mitmachen. Es waren allein im September/Oktober 5.600 neue. Herzlich willkommen in der SPD, liebe Genossinnen und Genossen!

Mischt euch ein und bringt noch welche mit. Es lohnt sich!

Demokratie braucht Einladung zur Praxis. Wir wollen Volksbegehren und Volksentscheide auch auf Bundesebene ermöglichen. Für Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bürger, die seit sechs Jahren in Deutschland leben, soll es das kommunale Wahlrecht geben. Lobbyisten müssen offenlegen, welche Interessengruppen hinter ihnen stehen und von wem sie bezahlt werden. Das waren Forderungen und Versprechen in unserem aktuellen Regierungsprogramm. Solche, die zum Mitmachen in der Demokratie einladen. Übrigens: Statt alle vier nur alle fünf Jahre den Bundestag wählen, wie es der Bundestagspräsident fordert, wäre ein Demokratie-Minus. Nur wenn wir deutlich stärkere plebiszitäre Elemente einführen, lässt sich, glaube ich, auch eine Verlängerung der Legislaturperiode rechtfertigen.

Demokratie gründet auf der Gleichwertigkeit aller Menschen, dass es nicht Herr gibt und nicht Knecht, nicht Herrin und Magd, das ist sozialdemokratisches Credo. Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Ich erinnere  an Johannes Rau, der, als er Bundespräsident wurde, sich auf diese Stelle in Artikel 1des Grundgesetzes bezogen hat, und gesagt hat: "Da steht, die Würde des Menschen ist unantastbar. Da steht nicht, die Würde des gesunden, des nicht behinderten Menschen, da steht nicht, die Würde des deutschen Menschen ist unantastbar, sonder da steht, die Würde jedes Menschen ist unantastbar." Das ist Grundlage, so, wie wir Demokratie verstehen: Gleichberechtigung aller Menschen. Nicht gleich, aber Gleichberechtigung. Keiner ist weniger wert als der andere.

Diese Idee von der Gleichwertigkeit hat historisch mit der Sozialdemokratie an Durchschlagskraft gewonnen, in unserem Land und anderswo. Wir haben das Soziale und das Demokratische als Begrifflichkeit und als Anspruch in die deutsche Politik gebracht, eine stolze Geschichte. 1863 in Leipzig war Demokratie eine klare Kampfansage und eine bewusste Provokation in Richtung der Herrschenden. Heute ist es allen leicht. Aber die Wahrheit ist: Erst nach dem Zweiten Weltkrieg ist Demokratie unbestritten die einvernehmliche Basis unseres Gemeinwesens geworden.

Endgültig garantiert ist dieser gesellschaftliche Fortschritt aber nicht, denn das Faustrecht ist nicht tot, wonach sich immer der Stärkste und Skrupelloseste durchsetzt. Die internationale Finanzindustrie demonstriert das zur Zeit ungeniert. Sie schlägt brutal zu. Das ist Rückschritt, das ist gefährlich für die Demokratie.

Unabhängig davon müssen wir uns fragen: Was ist mit den Minderheiten in unserem Land? Denn da entscheidet sich ganz praktisch die demokratische Qualität unseres Landes. Ist die Akzeptanz der Gleichwertigkeit von Minderheiten wirklich gesichert? 15 Prozent unserer behinderten Kinder gehen in Regelschulen. In skandinavischen Ländern sind es bis zu 80 Prozent. Behinderte werden in Deutschland früh und großenteils unnötigerweise früh separiert und aussortiert. Das darf so nicht bleiben, liebe Genossinnen und Genossen.

In der rot-grünen Zeit haben wir einige Vorurteile gegenüber homosexuellen Menschen abbauen können, aber noch nicht alle. Die fehlenden Schritte zur Gleichstellung aller Formen von Partnerschaft müssen bald getan werden.

Deutschland ist seit Jahrzehnten Einwanderungsland. Akzeptiert ist das noch nicht lange, und von manchen noch gar nicht. Die Idee der deutschen Leitkultur ist bei den Konservativen noch nicht aufgegeben. Aber noch einmal: Unser Grundgesetz formuliert die Werte und gibt die Regeln. Wir brauchen darüber keinen verquasten Überbau deutschtümelnder Art. Das Grundgesetz gilt für alle. Das ist die Regel, nach der wir in Deutschland miteinander leben wollen.

Das Problem, das sich über die Jahre bei der Integration aufgebaut hat, ist ziemlich groß. Nur wenn wir in der vorschulischen Zeit und in der Schule und beim Übergang in den Beruf konsequent ansetzen, kann die Integration besser gelingen, aber auch das nur, wenn wir die Familien offensiv einbeziehen. Bund, Länder und Gemeinden müssen bei dieser großen gesellschaftlichen Aufgabe zusammenwirken. Anders wird das nicht gehen. Wenn das Grundgesetz heute noch dagegensteht, weil es solche Kooperationen verbietet, muss es dazu geändert werden, wie für die entscheidende Frage der Bildungspolitik in Deutschland überhaupt. Schluss mit der faulen Ausrede, dass für die Bildung die andere politische Ebene verantwortlich ist. Wir sind alle gefordert, am besten gemeinsam, liebe Genossinnen und Genossen.

Das ist kein leichtes Thema. Aber die erste Frage der Politik darf nicht schon wieder sein, wie populär der Kampf um gelungene Integration und ihre Verknüpfung mit einer großen Bildungsanstrengung denn ist, wie viele Wählerstimmen das verspricht oder kosten könnte. Wir müssen es endlich tun, und wir müssen dafür werben.

Demokratie braucht lokale und globale Dimensionen. So, wie die Bundespolitik den handlungsfähigen Sozialstaat garantieren muss, muss vor Ort und in der Region die soziale Gesellschaft wirksam sein, als Kitt der Demokratie: Vereine, Verbände, Initiativen, aber eben auch Parteien, Hauptamtliche und Ehrenamtliche. Sie knüpfen hier die gesellschaftlichen Netze. Kirchen, Gewerkschaften, große soziale Verbände, sie allen gehören dazu. Das sind immer noch viele, und das macht Mut für die Zukunft der Demokratie. Als Vorsitzender der SPD sage ich hier noch einmal ein Dankeschön an alle im Lande, die sich beruflich oder ehrenamtlich engagieren. Menschen für Menschen, das ist ein gutes Stück lebendige Demokratie. Macht das weiter!

Das kommunale Leben, die lokale Demokratie brauchen große politische Aufmerksamkeit, brauchen auch Handlungsspielraum und Handlungskraft.

Das Kommunale ist nicht das Kellergeschoss der Demokratie, sondern eine tragende Säule auch für uns als Partei. Lasst uns die Oberbürgermeister, Bürgermeister, Landräte zusammenholen und mit ihnen Merkel und Co. zeigen: Die Missachtung der Städte und Gemeinden und deren Menschen durch diese schwarz-gelbe Koalition akzeptieren wir nicht. Das gibt richtig Krach. Zurück an die Quelle! Und die ist vor Ort, liebe Genossinnen und Genossen.

Demokratie in einer globalisierten Welt ist keine neue Herausforderung. Aber sie ist inzwischen in Gefahr. Wir denken und agieren nationalstaatlich. Aber die nationalen Grenzen sind mit der faktischen Globalität immer relativer geworden. Es ist ein großes Dilemma der Arbeiterbewegung, dass die handelnden Personen und die Arbeitnehmer an den nationalen Grenzen auf Grenzen stoßen, das Geld aber nicht.

Die internationale Finanzkrise beweist drastisch, wie ohnmächtig nationale Politik gegenüber global agierenden Hasardeuren werden kann. Bürgerinnen und Bürger fragen sich und fragen auch uns, ob wir die Sache im Griff haben, ob irgendwer denn die Sache im Griff hat im Sinne von sozialer Marktwirtschaft und Demokratie. Wer von uns wollte das bejahen? Die wachen Menschen fragen sich, für was denn dann Demokratie und Politik überhaupt gebraucht werden. Wir dürfen uns da nicht beruhigen lassen und dürfen uns auch nicht herausreden. Wir erleben nicht einen versehentlichen Ausrutscher des modernen Kapitalismus, sondern erleben seinen wahren Charakter, und der ist nicht kompatibel mit Demokratie, liebe Genossinnen und Genossen.

Entweder es gelingt, internationale Regeln zu setzen, die den Primat der Politik garantieren, die klarmachen: Geld und Wirtschaft müssen den Menschen dienen und nicht umgekehrt. Oder die Demokratie verliert weiter schnell an Substanz und Vertrauen - weltweit und nicht nur bei uns. Es ist allerhöchste Zeit.

Die Zustimmung zur Demokratie war mindestens in der alten Bundesrepublik immer aufs Engste mit wachsendem Wohlstand und sozialer Stabilität verbunden. Was würde sein, wenn diese Analogie zerbräche? Europa ist der Feldversuch. Nur wenn die 27 insgesamt weitgehend demokratisch glaubwürdigen EU-Länder und ihre europäischen Institutionen es gemeinsam schaffen, diesen Finanzkapitalismus zu zähmen und gleichzeitig ökonomisch erfolgreich zu sein - im weltweiten Vergleich, besonders auch im Vergleich mit den großen Schwellenländern -, nur dann hat Demokratie global eine Chance.

Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück haben da Zeichen gesetzt. Nichts ist verloren. So mancher ist mit offensichtlich gutem Willen dabei, auch bei der G 20. Aber wir müssen auch Druck machen und dürfen uns keine Illusionen machen, liebe Genossinnen und Genossen. Denn gewonnen ist das noch nicht. Für die, die mit Geld spekulieren und für die Geld wichtiger ist als die Rechte der Menschen, für die ist Demokratie nichts, von dem sie sich freiwillig aufhalten lassen. Es gilt: entweder - oder. In den kommenden Jahren entscheidet sich da viel.

Die soziale Demokratie ist gefordert, die SPD vorne an - national und international. Lasst uns an der Stelle kämpfen. Dies ist eine historische Aufgabe von ganz besonderem Gewicht. Lasst uns dazu beitragen, dass wir helfen in Deutschland, in Europa und weltweit, diesen Kapitalismus zu stoppen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass Demokratie bleiben kann - hier in Deutschland und in der Welt insgesamt, liebe Genossinnen und Genossen.

Nicht nur in Deutschland muss die Sozialdemokratie nach Niederlagen neue Kräfte gewinnen, auch in anderen europäischen Ländern. Und so schwach wie wir uns heute selbst sehen: die anderen warten und hoffen auf uns. Die glauben an unsere Kraft. Wir dürfen sie nicht enttäuschen. Die Geschichte der Arbeiterbewegung und der sozialdemokratischen Bewegung ist eine, in der wir als SPD immer eine besondere Rolle gespielt haben. Der müssen wir gerecht werden.

Demokratie, liebe Genossinnen und Genossen, will Fortschritt. Fortschritt ist aber über die Jahrzehnte sehr technisch aufgeladen worden. Zum Mond fliegen, totale Mobilität, Internet, 3-D-Filme, Erneuerbare Energien, Roboter, Hüftgelenke, Herztransplantationen. Dass aller technischer Fortschritt nicht nur die Lebensbedingungen des einzelnen Menschen verändert, oft auch verbessert, sondern auch das gesellschaftliche Miteinander etwas oder ganz massiv verändert, ist dabei oft verdrängt worden. Aus dem technischen Fortschritt muss aber gesellschaftlicher Fortschritt werden - darum geht es -, damit die Werte nicht verloren gehen in einer Welt des Fortschritts.

Zwei große menschheitsgeschichtliche Fortschritte kommen in Gefahr, zwei, die aufs Engste verbunden sind mit uns als Partei und mit der sozialdemokratischen Idee: die Idee von der organisierten Solidarität im Rahmen des Sozialstaates und die Idee des Prinzips der Demokratie. Diese tragenden sozialdemokratischen Ideen sind richtig und sie bleiben aktuell, jetzt und auch in der kommenden Zeit. Sie sind unverzichtbar. Das alles wirft viele Fragen auf und ist in der politischen Umsetzung kompliziert. Ja, ich weiß das. Aber die Wahrheit, die sich darauf für unsere Arbeit ergibt, ist relativ einfach. Ein paar klare Vorsätze helfen:

Erstens. Die Gesamtverantwortung zur Messlatte machen. Zweitens. Selbstkritisch sein und selbstbewusst. Wir können und müssen noch besser werden. Ja, aber gut sind wir schon. Drittens. Nach vorn blicken und handeln. Viertens. Für das Vernünftige werben. Und letztlich: Einigkeit machen stark. Das waren und bleiben Grundlagen sozialdemokratischer Erfolgsgeschichte.

2013, wenn es dann im Mai 150 Jahre sind seit Gründung der ersten sozialdemokratischen Organisation, des ADAV, kann die politische Welt auch im Bund schon wieder ganz anders aussehen. Das hat allerdings Bedingungen. Einige sind angesprochen, andere kommen hinzu. Wir können sie erfüllen. Lasst uns mutig ans Werk gehen, richtig mutig. Übermütig wäre falsch, kleinmütig noch falscher, liebe Genossinnen und Genossen. Mut auf dem Weg nach vorn!

In einem Gedicht von Peter Rühmkorf, das er Willy Brandt gewidmet hat, gibt es den Refrain: "Sei erschütterbar, doch widersteh!" Das trifft es. Denn, liebe Genossinnen und Genossen, das muss uns erschüttern: unser Vertrauensverlust bei so vielen Menschen. Unsere Unzulänglichkeit, das Richtige, das wir wollen, in konkrete Politik zu fassen. Unsere unzureichende Fähigkeit, unsere Politik verständlich und mehrheitsfähig zu machen. Das ist alles wahr. Aber wir müssen auch widerstehen: der Oberflächen- Antwort, dem billigen Zorn, der Nostalgie, der Mutlosigkeit, der Missgunst untereinander und dem kleinen Karo. Wir müssen widerstehen.

Abschließend - ich werde mich in der folgenden Aussprache noch zu Wort melden, wenn die Situation das gebietet - will ich sagen: Dies ist meine letzte Rede als Parteivorsitzender. Erlaubt mir daher ein paar persönliche Worte.

Erstens. Dankeschön an die, mit denen ich besonders eng zusammenarbeiten durfte und die jetzt mit mir aus den Parteifunktionen ausscheiden, auch wenn sie hoffentlich an anderen Stellen noch lange dabei sind. Frank-Walter, Peer, Hubertus, Kajo, Stefan, Svenja, Andreas, Raphael. Meine Büros im weiteren Sinne sind damit gemeint, auch die Fahrer und die Sicherheitsbeamten. Das sind prima Frauen und Männer. Danke allen im Willy-Brandt-Haus. Das ist eine starke Truppe.

Zweitens. Irgendwer hat gemeint, ich sei ein autoritärer Knochen. Viele haben das nachgeschrieben und erzählen das seit dem bereitwillig. Ich habe diese Charakterisierung immer mit Amusement betrachtet. Zum Abschied darf ich nun erleichtert feststellen: Ich bin diesbezüglich unerkannt durch die lange Zeit der Ämter gekommen. Es war mir eine Ehre und es war mir ein Vergnügen! Drittens. In diesen bald 44 Jahren Mitgliedschaft habe ich in dieser SPD viel erfahren, dass mich froh gemacht hat, dabei zu sein. Den Stolz der Freien, den Sinn für Gerechtigkeit, die Bereitschaft zum Engagement. Ganz überwiegend Gutes.

Ich bedanke mich bei allen, die in dieser besonderen Partei, der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, dabei waren und sind und die ihr treu sind. Gebt das Dankeschön auch an die weiter, die ihr nach dem Parteitag in den Ortsvereinen und Unterbezirken trefft. Sagt es auch ihnen: Wie es auch weitergeht im Auf und Ab und Ab und Auf der politischen Zeiten: Ich bin dabei, ich bin Sozialdemokrat- immer! Glückauf, liebe Genossinnen und Genossen!

Franz Müntefering

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