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Wahlsieger. Der Gründer der islamistischen Ennahda-Partei, Rached Ghannouchi, feiert den Erfolg in Tunesien.

© AFP

Nach den Wahlen in Tunesien: "Es gibt keine gemäßigte oder radikale Scharia"

Die islamistische Ennahda-Bewegung hat in Tunesien bereits mit Koalitionsverhandlungen begonnen. Der Nahostexperte Michael Lüders über den Weg der Reformstaaten, die Rolle der Religion und das Vorbild Türkei.

Die gemäßigte islamistische Ennahda-Partei hat die Wahlen in Tunesien gewonnen. Warum?

Es ist ein Paradox zu beobachten: Die arabische Revolution hat keine islamistischen Parolen gehabt oder islamische Forderungen aufgestellt. Nun hat aber die Ennahda-Partei die Wahlen in Tunesien gewonnen, und die Muslimbrüder werden wohl auch die stärkste Fraktion in Ägypten werden. Der wesentliche Grund ist, dass die Ennahda-Partei m ganzen Land bekannt ist, sie hat jahrzehntelang im Untergrund gewirkt und viele Tunesier in der Opposition unterstützt, hat kostenlose Dienstleistungen wie Armenspeisung geboten. Das schafft Vertrautheit auf dem flachen Land. Und Parteien in der arabischen Welt haben oft klientelistische Funktionen gehabt, also man wählt eine Partei in der Erwartung, von ihr Unterstützung zu erhalten. Und bei Ennahda weiß man zumindest, dass man keine Vertreter des Ancien Régime bekommt, die sich einfach ein neues Etikett zugelegt haben.

Was bedeutet das für die Verfassung, die nun ausgearbeitet wird?
Das muss man abwarten. Die Ennahda ist eine gemäßigte islamistische Partei, und sie orientiert sich ausdrücklich an der AKP-Partei des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan und nicht am Iran oder an Saudi-Arabien. Ennahda weiß sehr wohl, dass sie pragmatisch sein muss und vor allem auf einem Gebiet Erfolge vorweisen muss: in der Wirtschaft. Der wichtigste Wirtschaftszweig in Tunesien ist der Tourismus, und hier kann sich die Ennahda nicht erlauben, getrennte Badestrände für Frauen und Männer oder ein Alkoholverbot durchzusetzen. Dafür würde sie abgestraft werden.

In Algerien hatte die Islamische Heilsfront 1991 den ersten Wahlgang gewonnen – dann haben die Militärs den zweiten Wahlgang verhindert und die Macht übernommen. Sind wir heute weiter?
Der Militärputsch war eine Tragödie für Algerien. Die Islamisten sind daraufhin in den Untergrund gegangen, und es gab einen Bürgerkrieg, der vonseiten der Regierung und der Islamisten mit unvorstellbarer Grausamkeit geführt wurde. Diese Traumatisierung erklärt auch, warum der Arabische Frühling in Algerien erst spät greifen wird. Das algerische Regime gerät jetzt natürlich unter Zugzwang, aber ob es sich öffnen wird, ist sehr fraglich, denn die Macht ist fest in den Händen der Armee.

In Libyen hat der Übergangsrat erklärt, das Rechtssystem werde sich zukünftig an der Scharia orientieren. Was heißt das?
Wir wissen überhaupt nicht, welche Entwicklung Libyen nehmen wird. Aber wir müssen trennen zwischen den Bildern in unserem Kopf und dem, was passiert. In Deutschland ist Scharia ein Reizbegriff, genau wie Dschihad. Scharia ist letztendlich das Ehe-, Familien- und Erbrecht, das sehr unterschiedlich interpretiert werden kann. Wenn der Chef des Übergangsrates sagt, dass die Libyer sich auf die Scharia berufen werden, sagt er im Grunde nichts anderes, als ein Christdemokrat hierzulande, wenn er sich auf das christliche Abendland beruft.

Libyen ist ja ein konservatives Land mit starken religiösen Kräften – kann die Führung da eigentlich etwas anderes sagen?
Wenn die Regierung erklärte, Libyen wird ein säkularer Staat, eine Frauenquote von 50 Prozent wird in der Politik eingeführt und der Islam soll nur noch eine untergeordnete Bedeutung haben, dann würde sie Probleme bis hin zu gewalttätigen Auseinandersetzungen heraufbeschwören. Der Bezug auf Religion ist wichtig für jeden, der in diesen Ländern Politik macht. Es kommt darauf an, ob man den türkischen oder den saudischen Weg geht.

Gibt es eine „gemäßigte Scharia“, von der immer wieder die Rede ist?
Es gibt keine gemäßigte oder radikale Scharia, sondern liberale und intolerante Interpretationen. Man kann Dieben die Hand abhacken wie in Saudi-Arabien oder aber sagen, das machen wir erst, wenn wir das Paradies auf Erden geschaffen haben – bis dahin werden die Bestimmungen der Scharia außer Kraft gesetzt. Das ist die Interpretation der gemäßigten Kräfte. In Marokko ist die Scharia pro forma in Kraft, aber Frauen und Männer wurden vor dem Gesetz gleichgestellt.

Welches Land in Nordafrika hat denn die größten Erfolgschancen? 
Libyen hat einen entscheidenden Vorteil gegenüber Tunesien und Ägypten: Erdölreichtum. Das macht Libyen weniger anfällig für radikale Ideologien. Die große Gefahr für Tunesien und Ägypten besteht darin, dass der politische Aufbruch nicht funktioniert, weil die Wirtschaft am Boden liegen bleibt. Daher sollten sich die Europäer mit dem gleichen Engagement, mit dem sie sich um Griechenland kümmern, für diese Länder einsetzen.

Michael Lüders (52) ist Islamwissenschaftler und Nahostexperte. Er berät Politik und Wirtschaft. Lüders lebt und arbeitet in Berlin.

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