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An der Grenze. Gefährdet die Personalnot bei Justiz und Polizei den Rechtsstaat?

© Felix Kästle/dpa

Alarmruf der Verbände: Gerichten und Polizei fehlen mindestens 22.000 Beamte

Richterbund und Polizeigewerkschaft schlagen Alarm. Sie sehen durch fehlendes Personal die Handlungsfähigkeit des Rechtsstaats gefährdet.

Viel drastischer könnte der Alarmruf kaum ausfallen. Wegen des massiven Personalmangels und der anstehenden Pensionswelle bei Polizei und Justiz sei die Stabilität des deutschen Rechtsstaates in Gefahr, warnten der Deutsche Richterbund (DRB) und die Gewerkschaft der Polizei (GdP) bei einer gemeinsamen Pressekonferenz in Berlin. Bundesweit fehlten mindestens 2000 Richter und Staatsanwälte sowie 20.000 Polizisten – was eine „Erosion der inneren Sicherheit“ zur Folge habe. Die Zahl der Neueinstellungen müsse in beiden Bereichen deutlich erhöht werden – und zwar vorbehaltlos und schnellstmöglich.

Wie brisant die Personallage bei der Polizei sei, habe zuletzt der G20-Gipfel in Hamburg gezeigt, sagte der GdP-Bundesvorsitzende Oliver Malchow. Gleichzeitig müsse man über den Tellerrand sehen. Die Sicherheit der Bürger könne „nur gewährleistet werden, wenn die Kette Polizei – Staatsanwaltschaft – Gericht funktioniert“. Weil ermittelte Täter inzwischen oft viel zu lang auf ihre Verurteilung warten müssten und viele Verfahren auch ganz eingestellt würden, steige bei den Polizeibeamten der Frust.

Richterbund warnt vor gewaltiger Pensionierungswelle

Der Richterbund kann das nachvollziehen. „Wenn die Justiz zum Flaschenhals wird“, beschrieb Verbandschef Jens Gnisa das Dilemma, „ist die Arbeit der Polizei vergeblich“. Tatsächlich komme die Strafjustiz schon jetzt kaum noch hinterher, „es knatscht an allen Ecken und Enden“. Und in den kommenden 10 bis 15 Jahren werde sich das Personalproblem in Gerichten und Staatsanwaltschaften massiv verschärfen. „Auf die deutsche Justiz rollt eine gewaltige Pensionierungswelle zu.“

Bis 2030 gingen bundesweit rund 40 Prozent aller Juristen in den Ruhestand, rechnete Gnisa vor. Die Justiz verliere dadurch in den nächsten 15 Jahren rund 11.700 Richter und Staatsanwälte. In Ostdeutschland seien es mit 62,5 Prozent sogar zwei Drittel. Gleichzeitig würden die Strafverfahren immer komplexer und arbeitsaufwändiger. Eine vorbeugende Personalpolitik müsse jetzt darauf reagieren und nicht erst in zehn Jahren, mahnte der Verbandschef.

Freilassung wegen überlange Strafverfahren

Als „alarmierendes Warnsignal“ bezeichnete es der Funktionär, dass die Gerichte zunehmend Angeklagte aus der Untersuchungshaft entlassen müssten, weil Strafverfahren unvertretbar lange dauerten. Pro Jahr seien das inzwischen 40 bis 45 Fälle. Und meist gehe es dabei nicht um Kleinkriminelle, sagt Gnisa, sondern um Verdächtige, denen ganz erhebliche Straftaten vorgeworfen werden.

Die Justiz müsse sich auch immer häufiger damit behelfen, Verfahren einzustellen. Von den fünf Millionen erledigten Strafverfahren im Jahr 2015 sei das jedes dritte gewesen, berichtete der Verbandsvorsitzende. Zehn Jahre zuvor habe die Quote noch ein Viertel betragen. Gleichzeitig dauerten die Strafverfahren länger, die Zahl der Hauptverhandlungstage vor Landgerichten sei binnen zehn Jahren im Durchschnitt von 3,2 auf 4,3 gestiegen. Bei Wirtschaftsdelikten kämen die Angeklagten wegen überlanger Verfahrensdauer in fast jedem dritten Fall mit Strafrabatten davon. Das, so sagt Gnisa, sei in dieser Dimension auch ein Gerechtigkeitsproblem.

"Riesige Aktenberge" in Verwaltungsgerichten

Hoch belastet sind dem Richterbund zufolge neben der Strafjustiz auch die Verwaltungsgerichte, die immer mehr Asylverfahren abzuarbeiten hätten und inzwischen „riesige Aktenberge“ vor sich herschöben. In ländlichen Regionen könnten manche Gerichtsstellen nicht mehr besetzt werden, sagte Gnisa. Selbst der Generalbundesanwalt suche händeringend nach Staatsanwälten zur Terrorabwehr. Aufgrund besserer Bezahlung zögen Nachwuchsjuristen mittlerweile oft eine Karriere in großen Anwaltskanzleien vor. Und von wegen Juristenschwemme: Die Zahl der Staatsexamens-Absolventen sei in den vergangenen 15 Jahren um 30 Prozent gesunken.

Auch bei der Polizei gibt es das Pensionsproblem. Bis zum Jahr 2021 verabschiedeten sich rund 44.000 Beamte in den Ruhestand, sagte GdP-Chef Malchow. Das sei fast jeder Fünfte der bundesweit rund 215.000 Vollzugsbeamten. Das Personal werde zwar inzwischen aufgestockt, bis 2021 stünden den Dienststellen 56.000 zusätzliche Polizistinnen und Polizisten zur Verfügung. Doch das reiche nicht. Unterm Strich betrage der Zuwachs dann ja nur 12.000 Personen, von denen die Mehrzahl auch noch bei Bundespolizei und Bundeskriminalamt landeten.

Vor allem in den Ländern fehlt es an Polizisten

„Diese Aufteilung finden wir äußerst problematisch“, sagte Malchow. Den 16 Bundesländern, die eine Verstärkung am dringendsten nötig hätten, blieben von all dem gerade mal 5500 zusätzliche Polizisten. „Das ist viel zu wenig“.

Aufgrund der Personalengpässe könne sich die Polizei längst nicht mehr so um Sicherheit und Alltagskriminalität kümmern, wie von der Bevölkerung gewünscht, klagte der GdP-Chef. Wohnungseinbrüche beispielsweise würden auf den Polizeidienststellen vielerorts „nur noch verwaltet“. Auf diese Weise würden immer mehr Bürger erst zum Opfer von Dieben und dann zum Opfer der Personalengpässe bei der Polizei. „Das“, so sagt Malchow „ist kein handlungsfähiger Staat“.

Um die Situation an den Gerichten und in den Staatsanwaltschaften nicht weiter zu verschärfen, appellierte der Richterbund an die Politik, ihren Gesetzgebungseifer etwas zu zügeln. Oft gehe es stärker darum, die Durchsetzung von Gesetzen zu erreichen als neue auf den Weg zu bringen. Und wenn dies schon sein müsse, dann sollte dabei berücksichtigt werden, dass ihr Vollzug mehr Arbeit verursache und man dafür mehr Personal benötige.

Ein Problem sind auch die Gehaltsunterschiede

Ein Problem dabei ist nach Darstellung beider Verbände aber auch der Föderalismus. Mehr als 90 Prozent der Richter seien Landesbeamte, sagte Gnisa. Da könne die Bundespolitik nur appellieren. Hinzu komme gegenseitige Konkurrenz bei der Personalanwerbung. Zwischen den Gehältern gebe es eine Spreizung von bis zu 900 Euro im Monat. Besonders gut werde in Süddeutschland und dem Bund gezahlt, besonders schlecht im Saarland.

Bei der Polizei liegt der Gehaltsunterschied ihrer Gewerkschaft zufolge bei bis zu 500 Euro. Am besten bedacht würden die Kollegen in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. Das Schlusslicht bei den Polizeigehältern bilde Berlin.

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