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Fahndungsbilder eines Instituts der sowjetischen Geheimpolizei, Ende der 30er Jahre.

© promo

Privatleben im Totalitarismus: Familie, Macht, Geschichte

In seinem Buch „Die geführte Familie“ untersucht der Historiker Paul Ginsborg das Private in der Sowjetunion, im europäischen Faschismus und in Atatürks Türkei. Er vervollständigt so das Bild des 20. Jahrhunderts. Eine Rezension

Von Caroline Fetscher

Avantgarde wollten sie sein. Alte Familienmodelle wollten sie umkrempeln oder vollends beenden. Was eine Gruppe russischer Studentinnen und Studenten 1924 ausprobierte, hört sich an wie ein Experiment von Kommunarden der 68er Revolte, nur größer angelegt, viel größer: 133 junge Frauen und Männer, die am Elektrotechnischen Institut Leningrad für die Zukunft der Sowjetunion lernten, gründeten in dem Jahr von Lenins Tod, als St. Petersburg nach ihm umbenannt worden war, die legendäre „Kommune der 133“. Vollkommene Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern wollten sie, gemeinsames Wohnen, kompletten Kollektivbesitz. Nicht einmal ein Pullover oder ein Paar Socken gingen als Privateigentum durch. Gemeinsam wurde gegessen, gekocht, im Gebäude rissen die Kommunarden Zwischenwände heraus, hell und transparent sollten ihre Räume sein. Woran scheiterte das Projekt? Am Streit um Paarbildung, Promiskuität, Treue, Heiraten, Kinder. In diesen Fragen fand sich kein Äquivalent zur neuen Architektur.

"Ein Genosse nimmt zwei Frauen ..."

So radikal sie die Welt umwälzen wollten, wundert sich Paul Ginsborg, so wenig hatten die großen revolutionären Denker, von Marx über Engels, von Lenin bis Stalin, Konzepte für den Umbau der Familie entworfen. Zwar sollte die Geschichte Unterdrückung und Ausbeutung fortschwemmen, sie sollte die Versklavung der Frauen beenden, in der bürgerlichen Kleinfamilie wie in der bourgeoisen oder bäuerlichen Großfamilie. Doch Modelle dafür, wie sich „der neue Mensch“ privat arrangieren sollte, entwarfen sie erstaunlicherweise nur in vagen, abstrakten Skizzen. War sie erst einmal in die Produktion gelangt, würde die Frau, flankiert von Kinderkrippen, Suppenküchen, Großwäschereien, schon befreit sein, lautete die Faustformel. Indes öffnete eine neue Gesetzgebung durchaus befreiende Tore. Schon 1922, Wladimir Putin müsste es grausen, wurde in der Sowjetunion die gleichgeschlechtliche, konsensuelle Liebe unter Erwachsenen entkriminalisiert.

Es ging hoch her, bei der Debatte am 17. Oktober 1925, als sowjetische Revolutionäre darum stritten, wie das Familienrecht der neuen Gesellschaft aussehen würde. Sicher, Ehen würden mit oder ohne Trauschein anerkannt, gleiche Rechte für Männer wie Frauen, auch in Ordnung. Dass aber Väter auch Alimente für Kinder zahlen sollten, deren Mütter sie verlassen hatten, rief Empörung hervor. Eine wache, alte Bäuerin aus Sibirien hingegen erklärte schlicht: „Ein Genosse nimmt zwei Frauen, macht jeder ein Kind. Wer gerne Schlitten fährt, dem darf es auch nichts ausmachen, den Schlitten den Hügel hochzuziehen.“

Dem sowjetischen Staat widmet der britisch-italienische Historiker Paul Ginsborg, Jahrgang 1945, das erste wie das letzte der sechs Kapitel eines wissenschaftlichen Mammutprojekts. Ginsborgs über 750 Seiten starke Studie mit dem Titel „Die geführte Familie. Das Private in Revolution und Diktatur 1900- 1950“ ist dieser Tage erschienen. In den meisten Studien zur Epoche, schreibt Ginsborg, sei das Thema Familie „ein weißer Fleck auf der historiografischen Landkarte“. Mit Wucht verschiebt Ginsborg ein Peripherieinteresse der Zunft ins Zentrum, er beleuchtet und vergleicht die Familienpolitik der frühen und späten Sowjetunion, des Faschismus in Deutschland, Italien und Spanien sowie der Kulturrevolution in der Türkei unter Mustafa Kemal „Atatürk“.

Ein erkenntnissattes Panorama der politischen Landschaft Europas

Entstanden ist dabei ein staunenswertes, erkenntnissattes Panorama der politischen Landschaft Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es ist auch ein Panorama, dessen Umrisse bis heute erkennbar sind – im politischen Zwist um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wie gefährdend psychologisch mangelhaft durchdachte Regelungen sein können, belegt etwa der von Agathe Israel und Ingrid Kerz-Rühling herausgegebene Sammelband über Krippenkinder in der DDR. Aufs Neue umstritten ist die Betreuung von Kleinkindern, wie nicht nur die Streitschrift „Vater, Mutter, Staat. Das Märchen vom Segen der Ganztagsbetreuung“ von Rainer Stadler beweist.

Familien, die intimen Räume privater Machtverhältnisse, sind zähe Objekte für die Politik. Dennoch nahm revolutionäre wie totalitäre Familienpolitik enormen Einfluss auf Abermillionen Menschen, oft pauschal „die Bevölkerung“ genannt. Ginsborg lässt zu seinem Thema ungewöhnliche Quellen sprechen, Schulhefte, Tagebücher, Pamphlete, Enzykliken, private Briefe, ganze Biografien, aber auch emblematische Kunstwerke der Epoche, denen sein Buch Exkurse und eine Vielzahl der Abbildungen, von Marinetti bis Grosz, widmet. Zu Ginsborgs Protagonisten zählen die radikale Familienpolitikerin Alexandra Kollontai, einziges weibliches Mitglied in Lenins Zentralkomitee, die als eine der wenigen zu Sexualität und Liebe publizierte, die emanzipierte Kemalistin Halide Edip, die gleichwohl blind sein sollte für den Genozid an den Armeniern, und die spanische Revolutionärin Margarita Nelken, zerrieben zwischen ihrer Familie und ihrem Kampf gegen Francos Regime.

Arrangierte Ehe oder Liebesheirat?

Die Konfliktlinien der Familienpolitik verlaufen grob zwischen Mann und Frau, Stadt und Land, Älteren und Jüngeren. Dahinter und darunter liegen Traditionen, Ideologien, Glaubenssysteme. Revolutionären Projekten in der UdSSR wie in der Spanischen Republik oder unter Atatürk ging es vorrangig um Säkularismus, um das Rütteln am Patriarchat und am Einfluss klerikaler Institutionen. Leben Eheleute patrilokal (am Wohnort des Vaters) oder neolokal (am selbstgewählten, anderen Ort)? Fördert der Staat Kern- oder Großfamilien? Erhalten Frauen Erbrecht, Wahlrecht, das Recht auf Abtreibung, auf Scheidung, auf Ausbildung? Arrangierte Ehen oder Liebesehen – was hat Vorrang?

Fast jeder Ruf nach Fortschritt und Freiheit provoziert zunächst apokalyptisches Echo, nicht allein bei Männern: Das wäre das Ende der Familie, der Kultur, der Gesellschaft! Im Namen der Jungfrau Maria vergewaltigten und verstümmelten Francos Falangisten junge Mädchen und Frauen, die sich für die Spanische Republik engagierten. Passioniert, erbittert, brutal wurden die Schlachten um Ideale und Ideologien zu Frauen und Familie ausgetragen, blutig, grausam. Doch teils auch mit Reformen von oben. So importierte Mustafa Kemal 1926 das Schweizerische Zivilgesetzbuch und gab damit türkischen Frauen ungeahnte Rechte auf Bildung und Selbstbestimmung.

Unermesslich, das macht Ginsborgs sozialpsychologischer Ansatz deutlich, sind die Traumatisierungen von Millionen Familien durch Bürgerkriege, Ersten und Zweiten Weltkrieg, durch Zwangskollektivierungen, Hungersnöte, Spitzelapparate. Unermesslich auch die Folgen über Generationen. Geschätzte sieben Millionen obdachloser Kinder zogen in den 1920er Jahren in Banden durch die UdSSR, Abertausende solcher Kinder gab es auch in Spanien nach dem Bürgerkrieg. Als sich dort, wie in Italien, die sozialistischen Akteure an der Macht des mit Franco wie Mussolini verbündeten Katholizismus abarbeiteten, verliefen Trennlinien oft quer durch ganze Familien – was, wie Ginsborg belegt, durchaus Vorteile haben konnte, da traditionelle, oft klassenübergreifende Loyalität der Familien, stark war. Wurde ein Familienmitglied der einen Fraktion inhaftiert, konnte ein Onkel oder Pate von der anderen Fraktion intervenieren.

Anders sah es im NS-Regime aus, dem es gelang, eine ganze Gesellschaft in dazugehörende und ausgegrenzte Familien zu spalten. Nirgends war der Anspruch drastischer, bis ins Mark der Familie einzudringen, als in der „rassereinen Volksgemeinschaft“ mit ihrer patriarchalen Rollenverteilung und teutonischen Härte der Erziehung. Zu Recht weist Ginsborg hin auf den radikalen Einschnitt zwischen Weimar und dem System „invasiver Kontrolle“ der Familien im Hitler-Regime. Diese Liaison zwischen Familien und Diktatur ist erst in Ansätzen aufgearbeitet, besonders wenig gefragt wurde nach der Rolle der Frauen. Hier bricht jetzt Ursula Mahlendorf ein Tabu mit ihrer Studie „Führers begeisterte Töchter. Wie Mädchen die Hitlerzeit erlebt und später verharmlost haben“. Eine ähnliche Perspektive sucht auch Wendy Lower mit „Hitlers Helferinnen. Deutsche Frauen und der Holocaust.“

Paul Ginsborg: Die geführte Familie. Das Private in Revolution und Diktatur 1900-1950. Aus dem Englischen von Heike Schlatterer, Ursula Held und Norbert Juraschitz. Hoffmann & Campe, Hamburg 2014. 750 Seiten, 38 Euro.

© HoCa

Dass es ein Ziel des Antisemitismus war, die als harmonisch und „verweichlicht“ angesehenen jüdischen Familien zu vernichten, analysiert Irith Dublon-Knebel in ihrem sensationellen Aufsatz „Holocaust Parenthood“ in dem von José Brunner herausgegebenen Band „Mütterliche Macht und väterliche Autorität. Elternbilder im deutschen Diskurs“. Neid auf jüdische Familien, erkennt die Autorin, war Antrieb für das gezielte Auseinanderreißen von Ehepaaren, das Trennen der Kinder von den Eltern, das Herabsetzen von Älteren in den Lagern. Dem Mordapparat ging es um mehr als physische Vernichtung, es ging um das Vernichten von familiärem wie erotischem Glück.

Paul Ginsborg spricht nicht jedes dieser Themen an, seine „Geführte Familie“ beansprucht keinerlei Vollständigkeit. Vielmehr zeigt Ginsborgs Finger in jedem Kapitel auf Lücken, auf ausstehende Untersuchungen, auf einen Kosmos an Desiderata der Geschichtsschreibung. Gerade darin liegt eine Stärke dieses Konvoluts, das sechs Bücher in einem versammelt. Es lässt erahnen, was noch zu entdecken und begreifen bleibt, und wie historisch kostbar alle Dokumente sind, auch und gerade die privaten.

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