zum Hauptinhalt
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier redet SPD-Chef Martin Schulz ins Gewissen.

© Jesco Denzel/Bundesregierung/dpa

Regierungsbildung: Schluss mit der Nabelschau!

Die einen sind tief gekränkt, die anderen panisch vor Angst, die nächsten wollen mehr Streicheleinheiten von der Kanzlerin. Überall Befindlichkeitspolitiker. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Du fühlst dich zutiefst verletzt und unverstanden. Ein anderer hat dich kritisiert, sich in verletzender Form dir gegenüber verhalten. Dir verschlägt es die Sprache, du fühlst dich hilflos. Vielleicht überlegst du, auf welche Weise du ihm zeigen kannst, wie sehr er dich gekränkt hat, oder wie du ihm genauso weh tun und dich rächen kannst.

Diese Zeilen stammen von einer Psychotherapeutin, die auf der Webseite "psychotipps" unter der Überschrift "Kränkungen heilen heißt verzeihen können" Ratschläge gibt, wie ein Mensch mit Demütigungen umgeht. Die Sätze lesen sich aber auch wie eine aktuelle Beschreibung des Seelenzustands vieler Politiker. Die einen grübeln über ein schlechtes Wahlergebnis nach, die anderen über wenig erfolgreiche Sondierungsgespräche für ein Jamaika-Bündnis, die nächsten über eine Kanzlerin, von der sie nicht genug Streicheleinheiten bekommen.

Da wird auf eine Weise gejammert und geschmollt, wie sie das Land selten erlebt hat. Die eigene Befindlichkeit wird ernster genommen als das Parteiprogramm. Die Leitlinie "erst kommt das Land, dann die Partei und zuletzt die persönliche Gefühlswelt" steht auf dem Kopf. Als Ergebnis wird intrigiert und herumgedruckst, sich versteckt und sich geziert. Und kein Therapeut weit und breit, der die armen verletzten Seelchen wieder aufbaut.

Das Kontrastprogramm zu dieser Nabelschau liefern apokalyptische Szenarien. Der "Spiegel" titelt „Stunde Null“, als müsse das Land wie nach dem Zweiten Weltkrieg jetzt völlig neu aufgebaut werden. Andere beschwören die Gespenster von Weimar und warnen händeringend vor dem unaufhaltsamen Aufstieg populistischer Parteien. Ob Neuwahlen oder Große Koalition: Die Ränder, so heißt es, werden stärker als die Mitte. Man blicke nur nach Österreich!

"Schluss mit Introspektion und Weltuntergang!"

Schmolllust und Extremisten-Panik sind eine unreife, hyperventilierende Liaison eingegangen. Dabei geht’s Land und Leuten gut. Die Wirtschaft brummt, die Beschäftigung ist auf einem Höchststand, die Inflation ist niedrig, die Löhne steigen. Dieser Kontrast erzeugt einen doppelten Unwillen – zum einen gegen die jammernden Trotzköpfe, zum anderen gegen die überbordende Endzeitrhetorik. "Taucht gefälligst unter in einem Kaltwasser-Bad der Realität", möchte man lautsprecherverstärkt in diese Stimmung hineinrufen. "Schluss mit Introspektion und Weltuntergang!"

Rund 75 Prozent der Wähler haben sich bei der jüngsten Bundestagswahl für fünf Parteien entschieden, die im Prinzip alle miteinander koalitionsfähig sind. Diese Wähler wollen, dass ihre Interessen durchgesetzt werden, in welcher Koalition auch immer. Daran hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erinnert. Dessen kühle, ergebnisorientierte Lageanalyse überwölbt derzeit wohltuend das allgemeine Gegackere.

Hinsetzen, die Arbeit verrichten, sondieren, verhandeln, regieren: Das dürfen Bürger in einer Demokratie von Berufspolitikern verlangen. Sicher, auch Politiker sind Menschen und haben menschliche Gefühle. Überdies mag manche Beleidigtenpose taktische Gründe gehabt haben, gewissermaßen als Teil einer Gesamtinszenierung. Aber das entbindet nicht von der Pflicht, die Aufgaben, die sich stellen, ernst zu nehmen und anzupacken. Wem das trotzdem nicht gelingt, sollte Regel Nummer vier auf der Webseite "psychotipps" beherzigen: Suche nach positiven Motiven bei deinem Gegenüber.

Zur Startseite