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Ist der Angeklagte schuldunfähig? Er gibt an, sich an die Tat nicht erinnern zu können.

© dpa/Marcus Brandt

Schuldig im Sinne der Anklage?: Ein Gericht verhandelt über Sexsomnia

Ein ehemaliger Staatsanwalt soll seinen Sohn sexuell missbraucht haben – im Schlaf. Am Mittwoch urteilt das Landgericht Lübeck über den Fall.

Für den 52-jährigen Mann aus Lübeck ist der Gerichtssaal ein vertrautes Umfeld. Als Staatsanwalt war er seine Bühne. Vor dem Landgericht findet sich der Jurist jetzt in einer neuen Rolle wieder: Er ist der Angeklagte. In der Nacht auf den 27. März 2019 soll er einen schweren sexuellen Missbrauch an einem Kind begangen haben. Das mutmaßliche Opfer ist sein Sohn, der zu diesem Zeitpunkt acht Jahre alt war.

Wie unter anderem der „Spiegel“ berichtete, sollen Vater und Sohn regelmäßig im gleichen Bett geschlafen haben. Die Ehefrau und Mutter habe die Nacht auf dem Sofa verbracht. Am nächsten Morgen erzählte ihr der Junge, wie sein Vater ihn berührt habe und in ihn eingedrungen sei. Der gab an, sich nicht daran zu erinnern. Er erstattete Selbstanzeige.

Sexsomnia: Sex ohne Erinnerung

Doch die Staatsanwaltschaft Kiel stellte das Ermittlungsverfahren gegen den ehemaligen Kollegen aus Lübeck zunächst ein. Die Begründung: Der Tatverdächtige leide unter Sexsomnia. Betroffene dieser Schlafstörung nehmen in bewusstlosem Zustand sexuelle Handlungen an sich und anderen vor. Nach dem Erwachen können sie sich daran nicht erinnern.

Grundsätzlich können beim Schlafwandeln Dinge getan werden, die im wachen Zustand nicht dem eigenen moralischen Kompass entsprechen, sagt Thomas Pollmächer der Deutschen Presse-Agentur. Er ist Direktor des schlafmedizinischen Zentrums im Klinikum Ingolstadt. Das Auftreten von Sexsomnia soll unter anderem durch Stress und Alkohol begünstigt werden.

Entscheidung vom Oberlandesgericht: Staatsanwaltschaft musste Anklage erheben

Die Mutter des Jungen wollte sich mit dieser Erklärung nicht zufriedengeben. Sie legte eine Beschwerde gegen die Einstellung der Ermittlungen ein, die von der Generalstaatsanwaltschaft abgelehnt wurde. In einem Klageerzwingungsverfahren zog sie deshalb bis vor das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht. Dort erging am 24. Mai 2023, mehr als vier Jahre nach der Tat, der Beschluss: Die Staatsanwaltschaft muss Anklage wegen schweren sexuellen Missbrauchs erheben. „Statistisch betrachtet ist eine erfolgreiche Klageerzwingung eher selten“, sagt der Sprecher des Landgerichts Lübeck dem Tagesspiegel.

Der Prozess begann im Januar 2024. An fünf Verhandlungstagen wurden zwei psychiatrische Sachverständige und eine Reihe von Zeugen angehört. Die Vernehmung des Jungen wurde im Vorfeld der Verhandlung auf Video aufgezeichnet und im Saal abgespielt. Medienberichten zufolge sagte auch die inzwischen getrennt lebende Ehefrau und Mutter aus.

Sie habe in 15 Jahren Beziehung keine Anzeichen für Sexsomnia bei ihrem Partner beobachtet. Eine Ex-Freundin des Mannes soll dagegen den nächtlichen Austausch sexueller Handlungen geschildert haben, an die sich der Angeklagte ebenfalls nicht erinnern könne. Er selbst schwieg während des Prozesses.

Missbrauch im Schlaf: Ein schuldunfähiger Täter?

Auch wenn der Übergriff stattgefunden hat und rechtswidrig war, könnte der Angeklagte freigesprochen werden: Nach Paragraf 20 des Strafgesetzbuches handelt ohne Schuld, wer aufgrund einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung nicht in der Lage ist, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. Wie auch Schalfwandler können Betroffene von Sexsomnia ihr Verhalten nicht steuern. Bei einer Schuldunfähigkeit entfällt die Strafe, Maßnahmen wie eine psychiatrische Unterbringung sind jedoch nicht ausgeschlossen.

Verteidigung und Staatsanwaltschaft plädierten auf einen Freispruch. Zu groß seien die Zweifel an der Schuldfähigkeit des Angeklagten, sagt Staatsanwalt Axel Bieler dem Tagesspiegel. Nur die Nebenklage fordert eine Verurteilung: „Wir sehen den Schuldnachweis als erbracht an“, sagt Wolf Molkentin, der die Interessen des Sohnes vertritt.

Verteidigungsstrategie? Vertreter der Nebenklage befürchtet Signalwirkung

Für das Verhalten der Staatsanwaltschaft habe Molkentin wenig Verständnis. „Die jahrelange Verweigerungshaltung der Staatsanwaltschaft Kiel setzt sich hier fort“, sagt er dem Tagesspiegel. Im Falle eines Freispruchs befürchtet er eine Signalwirkung: „Dann ist nicht auszuschließen, dass künftig regelmäßig zu einer solchen Verteidigungsstrategie gegriffen wird.“

Gegen das Urteil des Landgerichts Lübeck kann das Rechtsmittel der Revision eingelegt werden. In der nächsten Instanz wäre dann der Bundesgerichtshof zuständig.

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