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Bilder aus Kairo, die es in dieser Form dort seit Jahren nicht mehr gab.

© dpa

Proteste im Nahen und Mittleren Osten: Staat für Staat

Nach dem Vorbild Tunesiens kommt es auch in anderen Staaten der Region zu Protesten. Wie angespannt ist die Lage in Ägypten, Jordanien und dem Libanon?

Tunesiens Revolution ließ politisch die Erde beben. Inzwischen erreichen die Schockwellen auch andere arabische Regime. Noch nie in der modernen Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens hat ein arabisches Volk aus eigener Kraft seinen Diktator davongejagt. Und so bangen jetzt auch die anderen Langzeit-Potentaten um ihre Macht. „Weg mit Mubarak“ skandierten zehntausende Menschen am Dienstag in allen großen Städten Ägyptens und riefen „Tunesien, Tunesien“. „Brot und Freiheit“ forderte die Menge in Amman und „Schluss mit der Unterdrückung“. In Tunesien campieren Bürger seit Nächten vor dem Amtssitz von Interim-Regierungschef Mohammed Ghannouchi und verlangen den Rücktritt aller Minister, die in das Regime von Ben Ali verwickelt waren. Auch in Algier tobten Straßenschlachten. Jeden Tag zünden sich Menschen an aus Protest gegen ihre miserablen Lebensumstände – in Marokko, Algerien, Mauretanien und Ägypten. Syrien und Libyen könnten ebenfalls bald betroffen sein.

ÄGYPTEN
Seit 30 Jahren ist Hosni Mubarak in Kairo an der Macht. Und das reicht vielen Ägyptern mittlerweile. Da es aber keine freien Wahlen gibt, sehen sie nur eine Chance ihn loszuwerden – mit Demonstrationen.

Wie aufgeheizt ist die Stimmung in Ägypten?
Für die Opposition und Menschenrechtsgruppen am Nil war ihr „Tag des Zorns“ am Dienstag ein bisher einmaliger Erfolg. Im ganzen Land gingen Menschen gegen das Regime auf die Straße – so viele wie noch nie in den drei Regierungsdekaden von Hosni Mubarak. In Kairo ließ die Polizei die Menge einige Stunden gewähren, erst nach Mitternacht wurde der zentrale Tahrir-Platz dann mit extremer Brutalität geräumt. Am Mittwoch früh gab Innenminister Habib al-Adly dann wieder die übliche harte Linie aus. Wer weiter protestiert, wird verhaftet und vor Gericht gestellt, ließ er in einem dürren Kommuniqué verbreiten. Doch so leicht lassen sich die Menschen nicht mehr einschüchtern. Am Nachmittag machten sich wieder Hunderte auf den Weg, zum zweiten „Tag des Zorns“. „Dieses Land gehört uns allen“, riefen sie, wie vor zwanzig Jahren in Leipzig die Demonstranten „Wir sind das Volk“. Doch bis dahin ist der Weg noch lang. Denn die ägyptische Polizei ist berüchtigt für ihre Brutalität, die Opposition berühmt für ihre Zerstrittenheit. Die Parteien sind schwach und desorganisiert, Mubaraks Regierungspartei übermächtig und allgegenwärtig. Einzig die Muslimbruderschaft bildet ein nennenswertes Gegengewicht zum Regime. Doch ihre Mitglieder halten sich in der Regel abseits, wenn zivilgesellschaftliche Gruppen zu Protesten aufrufen – so auch am Dienstag.

Droht Mubarak der Machtverlust?
Tunesiens Revolution ist kein Exportmodell – das jedenfalls denkt die politische Klasse Ägyptens. Sie sehen Präsident Hosni Mubarak weiter fest im Sattel. Jede Gesellschaft habe ihre eigenen Umstände, argumentierte Außenminister Ahmed Abul Gheit und nannte die Parallele beider Länder „baren Unsinn“ und „Phantasterei“. „Wir können doch nicht sagen, eine Gesellschaft ist gescheitert und unfähig, wenn es gleichzeitig 60 Millionen Handybesitzer gibt“, polterte er. Doch ausgerechnet diese digitale Revolution hat die Proteste erst möglich gemacht – in Tunesien wie auch in Ägypten. In beiden Staaten konnten sich die Menschen bisher nur im virtuellen Netz versammeln – per Facebook, Twitter oder SMS. Und in beiden Ländern haben sie ihre elektronische Verbundenheit schließlich umgemünzt in Protestaktionen auf der Straße.

Welche Rolle spielen Polizei und Militär?
Anders als in Tunesien steht das ägyptische Militär loyal zu dem gelernten Luftwaffen-General Hosni Mubarak. Die Offiziere fühlen sich als Elite der Nation und als Rückgrat der Macht. Sie gehen fest davon aus, dass auch Mubaraks Nachfolger aus ihren Reihen kommt. Und sie sind entschlossen einzugreifen, falls die Polizei mit den Protesten der Bevölkerung nicht mehr fertig wird.
Tunesiens Oberkommandierender Rachid Ammar dagegen zwang am Ende den früheren Geheimpolizisten Ben Ali zur Flucht. „Unsere Revolution ist eure Revolution“ versicherte der General Anfang der Woche Tausenden von Demonstranten. „Das Militär wird die Revolution beschützen.“ Rachid Ammar hatte sich in den dramatischen Januartagen geweigert, seine Soldaten auf die Bevölkerung schießen zu lassen und damit entscheidend zum Sturz des verhassten Diktators beigetragen. Auch gingen seine Truppen nach dem Umsturz entschieden gegen Plünderer und marodierende Banden des alten Regimes vor. Mehrmals schritten Soldaten in den vergangenen Tagen ein, um Demonstranten vor Übergriffen der Polizei zu schützen.

Was unterscheidet die Situation in Ägypten von der in Tunesien?
Im Unterschied zu Ben Alis Tunesien, aber auch zu Libyen und Syrien bietet Ägypten einige Ventile mehr für den Frust in der Bevölkerung. So hat sich seit einigen Jahren eine private Zeitungslandschaft etabliert, die heiße Eisen anpackt und das Regime kritisch kommentiert. Auch im Umgang mit der Muslimbruderschaft fuhr Mubarak bisher einen weniger brachialen Kurs als Tunesiens Ben Ali, Syriens Bashar al-Assad oder Libyens Muammar Gaddafi. In Ägypten sind die Islamisten offiziell als Partei verboten, waren aber in den letzten fünf Jahren mit 88 nominell unabhängigen Kandidaten im Parlament vertreten. Es gibt zwar immer wieder Verhaftungswellen, hunderte Mitglieder sitzen als politische Gefangene hinter Gittern. Doch hat Mubarak nie versucht, die Muslimbrüder von der politischen Landkarte zu tilgen und ins Exil zu zwingen. Erst bei den vergangenen Parlamentswahlen im November 2010 ließ der alte Langzeit-Pharao seine frommen Widersacher komplett aus dem Parlament entfernen, um die Machtlandschaft für seine Thronfolge im September 2011 zu planieren.

LIBANON
Hisbollah triumphiert. Ohne sie geht politisch nichts mehr in dem kleinen Zedernstaat am Mittelmeer. Vor zwei Wochen stürzte die radikale Schiitenorganisation die Regierung von Saad Hariri, als dieser gerade im Oval Office bei US-Präsident Barack Obama saß. Jetzt setzte sie mit dem sunnitischen Milliardär Najib Mikati bereits im ersten Anlauf einen ihr gewogenen Premierminister durch. Seitdem taumelt das Land zurück an den Rand eines Bürgerkriegs. Alle internationalen Vermittler sind inzwischen mit ihrem Arabisch am Ende und haben sich zurückgezogen. In Tripoli und Beirut gingen empörte Sunniten auf die Straße. Gerüchte schwirren durch die Hauptstadt. „Verlasst die Stadt, bevor sie zur Hölle wird“, warnen anonyme Massen-SMS. Und immer mehr Menschen verzweifeln an dem chronischen politischen Nervenkrieg in ihrer Heimat. Eltern schicken ihre Kinder nicht mehr zur Schule aus Angst vor neuer Gewalt, auch wenn der abgesetzte Premier Saad Hariri seine Anhänger eindringlich beschwor, Ruhe zu bewahren. Sein Parteienbündnis allerdings werde sich an dem neuen Kabinett nicht beteiligen, erklärte der Politiker.
Nachfolger Najib Mikati wiederum kennt den Preis seiner neuen Macht. Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah hat den superreichen Unternehmer nur deshalb auf den Schild gehoben, damit er die Kooperation mit dem „Sondertribunal für den Libanon“ in Den Haag aufkündigt. Denn die Zeit drängt. Vor acht Tagen legte Anklagevertreter Daniel Bellemare Untersuchungsrichter Daniel Fransen seine Ermittlungen zum Bombenanschlag am 14. Februar 2005 vor – zusammen mit einer Namensliste der Verdächtigen. In sechs bis zehn Wochen will Fransen entscheiden, ob und gegen wen er Anklage wegen des Mordes an Ex-Premier Rafik Hariri und seine 22 Begleiter erhebt. Im September könnte dann der weltweit erste Terrorprozess vor dem internationalen Gerichtshof beginnen – einen Schritt, den Nasrallah unter allen Umständen verhindern will. Denn der bärtige Scheich weiß, dass der Nimbus seiner „Partei Gottes“ auf der arabischen Straße schweren Schaden nehmen wird, sollten ihre Kader die Megabombe gegen den populären Ex-Premier tatsächlich gezündet haben. Der neue Premier Najib Mikati gibt sich derweil ungerührt und nennt sich einen „Kandidaten des Konsens“. Am Donnerstag will er beginnen, sein neues Kabinett zusammenzustellen – auf möglichst breiter Basis, wie er sagt.

JORDANIEN
Auch in dem haschemitischen Königreich brodelt es. „Brot und Freiheit“ fordern die Menschen bei ihren Protestmärschen durch Amman. Für kommenden Freitag haben die Islamisten zu neuen Demonstrationen aufgerufen. Noch nie in seiner 87-jährigen Geschichte hat Jordanien ohne ausländische Hilfsgelder existieren können. Immer mehr Menschen verarmen, leben als Bettler auf der Straße und können sich nicht mehr ernähren. Erst kürzlich sprangen die Vereinigten Staaten dem bedrängten König Abdullah II. wieder mit einer Finanzhilfe von 100 Millionen Dollar bei, damit er die Preise für Brot und Benzin senken lassen kann. Doch sein Volk will mehr. Es fordert den Sturz der Regierung und den Wandel zu einer konstitutionellen Monarchie. Der König soll die meisten seiner Vollmachten abgeben, sagen die Demonstranten. Seine Abdankung allerdings fordern sie bisher nicht.

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