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Ein EU-Beitritt der Türkei ist derzeit nicht in Sicht.

© dpa/EPA/Tolga Bozoglu

EU und Türkei: Stehen die Beitrittsgespräche vor dem Aus?

Seit der türkische Präsident hart gegen mutmaßliche Regierungsgegner vorgeht, ist der EU-Beitritt in weite Ferne gerückt. Dennoch wollen beide Seiten, den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen.

Trotz des schwierigen Verhältnisses zwischen der EU und der Türkei soll der Gesprächsfaden zwischen beiden Seiten nicht abreißen – das war die Botschaft des Gespräches, das der türkische EU-Minister Ömer Celik am Mittwoch in Brüssel mit EU-Kommissionsvizechef Frans Timmermans und anderen europäischen Spitzenvertretern führte.

Für beide Seiten steht viel auf dem Spiel: Die EU möchte sicherstellen, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan weiter illegalen Flüchtlingen den Weg in die Europäische Union versperrt. Und die Regierung im Land am Bosporus möchte trotz aller Differenzen langfristig nicht die EU-Beitrittsperspektive der Türkei verbauen.

Wie blickt die EU auf die Türkei seit dem Putschversuch?

Seit dem Putschversuch vom 15. Juli haben sich die Beziehungen zwischen der EU und Ankara verschlechtert. Noch im vergangenen Juni hatte die EU bei den Beitrittsverhandlungen ein weiteres Kapitel eröffnet, in dem es um vergleichsweise unstrittige Haushaltsfragen geht. Doch dann kam der Putschversuch im Juli, für den Erdogan in erster Linie die Bewegung des Islampredigers Fethullah Gülen verantwortlich macht. Die Bewegung wird von türkischen Regierungsvertretern konsequent als „Feto“ bezeichnet – das Kürzel steht für „Fethullah Terrororganisation“.

Nach dem Putschversuch ließ Erdogan nicht nur Anhänger der Gülen-Bewegung festnehmen, sondern auch andere Regierungsgegner – mutmaßliche Anhänger der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und kritische Journalisten. Außerdem wurden zehntausende Staatsdiener entlassen. Das strikte Vorgehen des türkischen Staatschefs gegen die Opposition führte zu einer merklichen Abkühlung des Verhältnisses zwischen Brüssel und Ankara. Am vergangenen Donnerstag forderte das EU-Parlament, die Beitrittsgespräche einzufrieren. Allerdings sieht es nicht so aus, als würden die EU-Mitgliedstaaten und die Kommission in Brüssel dieser nicht bindenden Resolution Folge leisten.

Wie verhält sich Kanzlerin Angela Merkel in der Krise?

Seit dem Putschversuch ist kein weiteres Verhandlungskapitel mehr geöffnet worden. Von daher war es zunächst einmal nicht mehr als eine Zustandsbeschreibung, als Merkel am Dienstag nach den Angaben von Teilnehmern in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion erklärte, sie rechne derzeit nicht mit der Eröffnung weiterer Kapitel.

Die Kanzlerin äußert sich gegenüber Ankara sehr viel vorsichtiger als andere Regierungschefs in der EU – beispielsweise der österreichische Bundeskanzler Christian Kern. Nachdem Erdogan am vergangenen Freitag damit gedroht hatte, angesichts der Resolution des EU-Parlaments den EU-Deal platzen zu lassen und die Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen, erklärte Kern mit Blick auf die Kontrollen an den österreichischen Grenzen: „Wir müssen unsere Aufgaben selbst lösen, wir dürfen nicht erpressbar sein.“

Angesichts der Drohung Erdogans ließ Merkel lediglich über eine Sprecherin mitteilen, „Drohungen auf beiden Seiten“ würden jetzt nicht weiterhelfen. Die Zurückhaltung der Kanzlerin hat ihren Grund: Merkel gehört zu den wichtigsten Architekten der just von Erdogan in Frage gestellten EU-Türkei-Vereinbarung. Der Flüchtlingspakt hat das Ziel, illegalen Schleppern in der Ägäis das Handwerk zu legen und Griechenland nicht mit dem Flüchtlingsproblem allein zu lassen, nachdem die „Balkanroute“ bereits im Februar geschlossen worden war.

Welches Ziel verfolgte Celik bei seinem Besuch in Brüssel?

Der türkische EU-Minister Celik, der Mitte Dezember auch in Berlin erwartet wird, sprach in Brüssel am Mittwoch mit dem Kommissionsvizechef Timmermans, EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos und Sicherheitskommissar Julian King. Bei den Gesprächen ging es um die gesamte Palette der heiklen Themen, die derzeit auf beiden Seiten diskutiert werden: Das Flüchtlingsabkommen, das mögliche Ende des Visumszwangs für türkische Bürger und der gemeinsame Kampf gegen die Terrormiliz des „Islamischen Staates“. In erster Linie hat die Türkei ein Interesse daran, dass es bald zu einer Beendigung des Visumszwangs kommt, so wie dies Ankara beim Abschluss der Flüchtlingsvereinbarung im März auch zugesagt worden war.

Der türkische EU-Minister Celik am Mittwoch mit Kommissionsvizechef Timmermans (Mitte) und Sicherheitskommissar King.

© AFP

Allerdings kann die Türkei aus Sicht der EU keine Visumsfreiheit erwarten, so lange nicht sämtliche 72 Kriterien dafür erfüllt sind. Als entscheidende Hürde gilt für Ankara eine Änderung der Anti-Terror-Gesetzgebung, die nach bisherigem Stand auch zu einer Einschränkung der Meinungsfreiheit führt.

Celik schlug bei seinem Auftritt in Brüssel einerseits versöhnliche Töne an – und wiederholte gleichzeitig Erdogans Drohung, den Flüchtlingspakt zu kippen. In einem Interview mit der ARD sagte er: „Ja, vielleicht könnten die Tore wieder geöffnet werden.“ Schließlich sei die Türkei kein „Konzentrationslager“. Gleichzeitig betonte er: „Wir wollen ein Mitgliedstaat der Europäischen Union sein, weil wir glauben, dass es für beide, die Türkei und die EU, Vorteile bringen würde.“

Wie blickt die Türkei seit dem Putschversuch auf die EU?

Vertreter der türkischen Regierung zeigen sich immer noch gekränkt, weil Europas Spitzenpolitiker und Massenmedien aus ihrer Sicht immer noch nicht richtig verstanden haben, welcher Zerreißprobe die Türkei derzeit ausgesetzt ist. Auch die Tatsache, dass sich seit dem Putschversuch zahlreiche europäische Spitzenpolitiker – darunter Außenminister Frank-Walter Steinmeier und sein britischer Amtskollege Boris Johnson – in Ankara die Klinke in die Hand gaben, ändert offenbar nichts an dieser Einstellung: Ein hochrangiges Regierungsmitglied warf dem Westen am Dienstagabend „mangelnde Solidarität“ vor.

Der stellvertretende türkische Ministerpräsident Mehmet Simsek sprach vor deutschen Journalisten in Istanbul von zwei „Traumata“ der jüngeren Vergangenheit für sein Land, bei denen die EU-Mitglieder „zu wenig Empathie“ gezeigt hätten. Das erste betreffe den Umstand, dass Kämpfer und Parteien der PKK nach Jahren des von Erdogan eingeleiteten Friedensprozesses wieder begonnen hätten, die Kontrolle über Provinzen im Südosten des Landes zu übernehmen. „Dabei hat die PKK deutlich gemacht, dass sie keine Autonomie anstrebt, sondern Teile aus dem Staatsgebiet reißen wollen“. Das zweite Trauma sei der Putsch vom 15. Juli. „Unsere Freunde in Europa schauen auf uns, schimpfen auf uns, anstatt mit uns zu reden“, klagte das Mitglied der türkischen Regierungspartei AKP. „Sie verstehen unsere Traumata nicht“.

Wie steht es um Erdogans Pläne zur Einführung eines Präsidialsystems?

Simsek kündigte zwar an, dass demnächst ein Entwurf zur Einführung eines Präsidialsystems vorgelegt werde. Der Gesetzentwurf zum Umbau des Staates werde Erdogan deutlich mehr Befugnisse als bisher einräumen, zugleich aber auch die Kontrollmöglichkeiten durch Verfassungsorgane stärken, sagte Simsek. Er verwies auf das Prinzip der „checks and balances“ in den USA und auf die Präsidialdemokratie in Frankreich.

Zudem stellte er die Abschaffung der umstrittenen Zehn-Prozent-Hürde bei Parlamentswahlen in Aussicht. „Sobald wir den Gesetzentwurf intern fertig abgestimmt haben, in etwa zwei Wochen, werden wir uns ausführlich Zeit nehmen, diesen im Parlament zu beraten“, sagte Simsek, der als „Superminister“ für Finanz- und Wirtschafsfragen zuständig ist. Die Beratungen sollen aber nicht während des Ausnahmezustandes stattfinden, versprach er. Simsek schloss auch aus, dass es ein Referendum zum Staatsumbau während des Notstandes geben werde.

Der Ausnahmezustand war nach dem Putschversuch verhängt worden und gilt derzeit bis zum 15. Januar. Er gibt Erdogan weitreichende Möglichkeiten bei der Strafverfolgung und der Kontrolle der Öffentlichkeit. Laut Simsek könne Ende März über die Verfassungsreform abgestimmt werden. „Dann können wir hoffentlich wieder zum Normalzustand zurückkehren“, sagte der Minister. Am Montag hatte der stellvertretende Ministerpräsident Numan Kurtulmus erklärt, der Ausnahmezustand werde so lange aufrecht erhalten wie nötig.

Plant Erdogan die Wiedereinführung der Todesstrafe?

Auf Nachfrage schloss Simsek kategorisch aus, dass die Regierung ein mögliches Referendum über die Einführung der Todesstrafe an die Reform zum Präsidialsystem koppeln wird. Das war von Kritikern befürchtet worden, da laut Umfragen eine Mehrheit für die Todesstrafe als denkbar gilt. „Das Thema Todesstrafe steht gerade nicht auf der Agenda“, sagte Simsek. Die Todesstrafe gilt aus der Sicht Deutschlands und der anderen EU-Staaten als „rote Linie“ – eine Wiedereinführung würde zwangsläufig zu einem Ende der EU-Beitrittsgespräche führen.

Zudem kündigte Simsek an, dass die Regierung allen Vorwürfen, es gebe Folter an Mitgliedern der Gülen-Bewegung, nachgehen werde. Folter sei absolut verboten. „Wir sind ein Rechtsstaat“, sagte er. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) hatte der türkischen Polizei im Oktober den Vorwurf gemacht, seit der Verhängung des Ausnahmezustands systematisch Gefangene zu foltern. Seit dem vergangenen Montag untersucht der UN-Sonderberichterstatter zu Folter, Nils Melzer, die Vorwürfe vor Ort.

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Ein Hinweis und Nachtrag in eigener Sache, da es Anfragen an die Redaktion zu den Umständen der Recherche gab: Die Recherchereise wurde im Auftrag der türkischen Standortförderagentur ISPAT von einer Hamburger Agentur organisiert, die Redaktion des Tagesspiegels hat einen Großteil der Kosten selbst getragen.

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