zum Hauptinhalt
Revolte in Nordafrika: Die Tunesier haben ihren Präsidenten vertrieben - nach 23 Jahren Polizeistaat.

© AFP

Tunesien: Szenen eines Aufstands

Immer neue Tote, bürgerkriegsähnliche Straßenschlachten, nicht endende Proteste: Die Tunesier haben ihren Präsidenten vertrieben – nach 23 Jahren Polizeistaat.

Die Armutsrevolte im Urlaubsland Tunesien hat sich auch durch die jüngsten Reformversprechen des am Freitag gestürzten Staatschefs Zine el-Abidine Ben Ali nicht stoppen lassen. Szenen von den wichtigsten Schauplätzen des Volksaufstandes:

Tunis, 730 000 Einwohner, mit Vororten knapp 2,5 Millionen Bewohner: „Ben Ali, raus“, „Rücktritt“, „Wir wollen Freiheit“, „Die Reformen reichen nicht.“ Zehntausende demonstrierten am Freitag im Zentrum der Hauptstadt auf der Avenue Habib Bourguiba, die nach dem ersten Präsidenten Tunesiens benannt ist. Jenem Staatschef, der 1987 von Ben Ali weggeputscht worden war. Die Menge zieht mit Plakaten und tunesischen Fahnen zum Innenministerium, wo hinter Stacheldrahtrollen schwerbewaffnete Wachposten stehen. „Entweder ihr tötet uns oder ihr haut ab“, rufen die Menschen, die ihre Angst vor dem Sicherheitsapparat, mit dem Ben Ali sein Volk 23 Jahre lang in Schach hielt, verloren haben. „Wir werden nicht verhandeln.“ Am späten Freitagnachmittag schießen Ben Alis Polizisten Tränengasgranaten auf die Menge, mehrere Menschen werden ersten Berichten zufolge verletzt, die Lage beginnt erneut außer Kontrolle zu geraten. In den letzten Tagen sollen in Tunis, vor allem in einigen Arbeitervororten, bereits mehr als 20 Menschen im Feuer der Polizei gestorben sein. Es entwickelten sich heftige Straßenschlachten in der Innenstadt. Demonstranten warfen Steine auf Polizei und Militär, warfen Brandsätze auf öffentliche Gebäude. Sie riefen: „Wir geben nicht auf.“ Es waren Schüsse zu hören. Gepanzerte Militärfahrzeuge fuhren in der City auf genauso wie vor dem Präsidentenpalast am Stadtrand.

Kasserine, 290 Kilometer südlich von Tunis, knapp 80 000 Einwohner: „Hier herrscht Chaos“, beschreibt der Gewerkschafter Sako Mahmudi die Lage. Mehr als 50 Menschen sollen, nach Angaben des örtlichen Krankenhauses, bei den Auseinandersetzungen mit der Polizei alleine in diesem Ort gestorben sein. „Die Polizei schoss wild in der Gegend herum. Unschuldige Menschen haben Kugeln in den Kopf bekommen“, berichten Bewohner. „Das Hospital ist überfüllt mit Verletzten.“ Einschusslöcher in Fassaden und Fenstern sind stumme Zeugen derSchießereien. Amateurvideos, die mit Handys aufgenommen wurden und im Internetnetzwerk Youtube oder auf der Oppositions-Webseite www.nawaat.org zu sehen sind, zeigen schreckliche Bilder von Opfern mit Einschusslöchern in Bauch, Brust, Beinen. Man sieht weinende und wütende Menschen. Ein 75-jähriger Mann und seine Frau sollen erschossen worden sein, als sie an der Spitze eines Trauerzuges gerade ihren Sohn, der ebenfalls durch eine Kugel getroffen wurde, beerdigen wollten. Ein 65-jähriger sank tödlich getroffen zu Boden, „als er gerade zur Moschee zum Gebet gehen wollte“, berichten Augenzeugen entsetzt. Angeblich sind Todesschwadronen und Scharfschützen der tunesischen Geheimpolizei unterwegs. Auch der Sitz der Gewerkschaft UGTT in Kasserine wurde von der Polizei überfallen. Jugendliche und Gewerkschafter, die hier Schutz gesucht hatten, wurden auf die Straße gezerrt, geschlagen, festgenommen, berichtet ein UGTT-Sprecher.

Bouzid, 75 Kilometer östlich von Kasserine, 40 000 Einwohner: Hier begann die Revolte gegen das Regime Ben Alis vor etwa vier Wochen. „Mit der Verzweiflungstat eines diplomierten Arbeitslosen namens Mohamed Bouazizi“, berichtet die Menschenrechtlerin Sihem Bensedrine. Der 26-jährige Bouazizi, der als fliegender Händler ein paar Dinare verdiene wollte, zündete sich am 17. Dezember vor dem Gebäude der Provinzverwaltung an. Schreit: „Schluss mit dem Elend!“ Weil Polizisten ihn schikanierten, seinen Karren umwarfen, „von ihm Schutzgelder erpressten“. Bouazizis Beerdigung wurde zu einem Aufschrei des Volkes: Tausende waren gekommen, nicht nur junge Leute, reckten die Fäuste in die Luft, skandierten: „Wir werden dich rächen!“ Bouazizi wurde zum Märtyrer und der Protest gegen Arbeitslosigkeit, Korruption und fehlende Freiheiten sprang schnell auf die umliegenden Städte über. Die ganze Region südlich von Tunis gilt als Armenhaus Tunesiens, bekam vom angeblichen tunesischen Wirtschaftswunder, das in der Hauptstadt Tunis und den Touristenorten an der Küste zur Schau gestellt wurde, nichts mit: Mehr als 30 Prozent sind arbeitslose, bei den Hochschulabgängern sogar 60 Prozent. „Die jüngere Generation wird von den Behörden gedemütigt“, urteilt der tunesische Wirtschaftswissenschaftler Abdeljelil Bedoui.

Hammamet, Urlaubsort an der Küste, knapp 70 Kilometer südöstlich von Tunis, 65 000 Einwohner: „Das ist ein Krieg“, berichten Augenzeugen aus der Stadt, in der vor allem im Sommer hunderttausende europäische Urlauber gerne ausspannen. Mitte der Woche brachen auch hier heftige Straßenschlachten aus, sogar in Strandnähe, dort wo die großen Hotels liegen. „Tod für Ben Ali“, sprühten Demonstranten an eine Fassade. Eine johlende Menge wirft Farbbeutel gegen ein riesiges Plakat, von dem Ben Ali herunterlächelt. Polizeiwachen und Gebäude der Staatspartei RCD brennen aus. Auch hier soll es Tote gegeben haben.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false