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Demokratische Vorfreude. Zwei Studentinnen in Tunis, wo die Parteien vor der Wahl am Sonntag eifrig plakatierten. Insgesamt 90 Listen bewerben sich um Sitze in der verfassunggebenden Versammlung des Landes.

© AFP

Tunesien wählt: Pioniere der Demokratisierung

Als erstes arabisches Volk gingen die Tunesier auf die Straßen, als erste sind sie am Sonntag zu freien Wahlen aufgerufen – Außenminister Westerwelle sieht darin Chancen für die ganze Region.

Von Hans Monath

Sie waren das erste arabische Volk, das einen Diktator stürzte, nun werden sie auch das erste sein, das freie Wahlen abhält: Am Sonntag sind die Tunesier aufgerufen, ihre verfassunggebende Versammlung zu wählen, die innerhalb eines Jahres eine neue Konstitution ausarbeiten sowie Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vorbereiten soll.

Die Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi Anfang Januar, der damit Polizeischikane und Missstände anprangern wollte, war ein Ereignis mit weitreichenden Folgen: Die Solidaritätskundgebungen und Massendemonstrationen zwangen nicht nur den tunesischen Diktator Zine al Abidine Ben Ali nach 23-jähriger Herrschaft ins Exil. Sie wurden auch zum Vorbild für Millionen anderer Araber, die unter korrupten Herrschern litten. Die durch die neuen elektronischen Kommunikationsmittel ermöglichte tunesische „Jasminrevolution“ griff schnell auf andere Länder wie Algerien, Ägypten, Bahrein, Syrien und Jemen über und wurde damit zum Ausgangspunkt der „Arabellion“.

Die Vorreiterrolle, die Tunesien bei den arabischen Revolutionen spielte, trauen manche dem Land nun auch beim Aufbau einer funktionierenden Demokratie zu. Die ersten freien und demokratischen Wahlen des Landes seit seiner Unabhängigkeit im Jahre 1956 sind ein entscheidender Schritt beim Umbau des gesamten politischen Systems, den sich das Land mit seinen rund zehn Millionen Einwohnern vorgenommen hat. Rund 90 Parteien stellen sich zur Wahl der 217 Abgeordneten. Nach jüngsten Umfragen können die moderaten Islamisten von der „Nahd“ mit dem besten Ergebnis rechnen. Ob islamistische Erfolge und Demokratie verträglich sind oder das Militär als Gegenmacht auf den Plan rufen, gilt als eine Schlüsselfrage der Entwicklung.

Denn der Druck steigt: Viele Tunesier verlieren langsam die Geduld. Ihre Freiheit haben sie zwar erkämpft, die sozialen und wirtschaftlichen Probleme aber sind in den neun Monaten seit der Flucht Ben Alis noch drängender geworden. Die Arbeitslosigkeit ist nach wie vor hoch, die Auslandsinvestitionen sind eingebrochen, viele Touristen meiden das Land. Immer wieder tragen Gruppen enttäuschter Tunesier ihren Protest auf die Straße – und das nicht immer gewaltfrei. Spätestens im nächsten Jahr, so sagen westliche Beobachter, muss es spürbare Verbesserungen geben, wenn nicht reaktionäre Kräfte massiv gestärkt werden sollen.

Die Bundesregierung setzt dennoch große Hoffnungen auf die Entscheidung in Tunesien, die sie als Chance für den Demokratisierungsprozess in Nordafrika und im arabischen Raum ansieht. Außenminister Guido Westerwelle (FDP) sagte dem Tagesspiegel, die Wahl zur verfassunggebenden Versammlung sei „ein historisches Ereignis und zugleich ein Lackmustest für die junge tunesische Demokratie“. Sofern sie frei und fair verlaufe, werde sie „beispielgebend für die gesamte Region sein“. Der Außenminister kündigte an, Deutschland werde das neue Tunesien weiter unterstützen, „damit der demokratische Wandel im Land unumkehrbar wird“.

Denn trotz aller Schwierigkeiten sehen deutsche Diplomaten gute Chancen für einen erfolgreichen demokratischen Wandel. Dass die Übergangsregierung internationale Wahlbeobachter zuließ, gilt als ein Bekenntnis zu Transparenz, Demokratie und Rechtsstaat. Verwiesen wird auch darauf, dass die Tunesier im Vergleich zu vielen Nachbarvölker überdurchschnittlich gut gebildet sind. Ihre Wirtschaft sei entwickelt und exportorientiert.

Am heutigen Freitag will Westerwelle die tunesische Botschaft in Berlin besuchen, um sein Interesse am Demokratisierungsprozess deutlich zu machen. Rund 80 000 in Deutschland lebende Tunesier können in diesen Tagen in eigens eingerichteten Wahllokalen ihre Stimme abgeben. Schon wenige Wochen nach der Jasminrevolution hatte Westerwelle im Februar Tunis besucht. Die Bundesregierung bemüht sich seither um enge Kontakte zur Übergangsregierung und um eine Politik, die den Umbau Tunesiens hin zu einem demokratischen und stabilen System unterstützt. Für diesen Zweck mobilisierte sie für das laufende Jahr 34 Millionen Euro für bilaterale Projekte.

Auf EU-Ebene setzte Berlin sich dafür ein, dass die Europäische Nachbarschaftspolitik künftig stärker die Zivilgesellschaft fördert und Unterstützungsleistungen in größerem Umfang als bisher von Demokratisierungsfortschritten abhängig macht. Das deutsche Drängen auf den Abbau von EU-Handelshemmnissen etwa für Agrarprodukte aus Nordafrika stößt allerdings auf Widerstand anderer EU-Staaten wie etwa Frankreich.

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