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Über die Zukunft der großen Koalition darf die Basis abstimmen. Zuletzt hatte das sogenannte "Mitgliedervotum" für Aufruhr gesorgt: Die ZDF-Moderatorin Marietta Slomka konfrontierte den SPD-Parteichef Sigmar Gabriel während eines Fernsehinterviews mit dem Vorwurf, das Votum verstoße gegen die Verfassung.

© imago

SPD-Mitgliedervotum: Wie tickt die Basis?

Sonst kümmern sie sich um kleine Anliegen in Städten und Dörfern. Jetzt sollen sie über den Koalitionsvertrag entscheiden. Die SPD-Basis ist sich uneins über das Bündnis mit der Union. Zu Besuch bei einem Ortsverein.

Von Katrin Schulze

So oft hat Johannes Schmidt in all den 15 Jahren, die er nun schon dabei ist, noch nie von ganz oben gehört. Alle zwei, drei Tage meldete sich Andrea Nahles zuletzt bei ihm. Immer per Mail, immer mit den neuesten Nachrichten aus den Koalitionsverhandlungen. Wie jedes Mitglied sollte auch Johannes Schmidt das Gefühl bekommen, dabei zu sein, wahrgenommen, ja für wichtig erachtet zu werden. Das ist für die SPD und ihre Generalsekretärin in diesen Zeiten bedeutender denn je. Die sozialdemokratische Führung zählt auf ihre Mitglieder, sie ist von ihnen abhängig. Denn ohne die Zustimmung der Basis wird sie nicht mitregieren können.

Der Sigmar Gabriel von Adelby-Engelsby

Johannes Schmidt hat die meisten Mails von Frau Nahles trotzdem nicht gelesen, was nicht nur damit zu tun hatte, dass sie bei ihm im Spam-Ordner landeten. Manchmal nervte es ihn, über jeden einzelnen Programmpunkt informiert zu werden. Er hat genug zu tun, und zusätzlich zur Parteiarbeit motivieren muss man ihn ohnehin nicht. Schließlich ist er so etwas wie der Sigmar Gabriel von Adelby-Engelsby. Mit seinen 30 Jahren ist er deutlich jünger als der SPD-Vorsitzende und, nun ja, auch deutlich schlanker, fast ein Schlacks. Im Prinzip aber erledigt er im Kleinen, was Gabriel im Großen tut.

Als Vorsitzender des Ortsvereins leitet er Sitzungen, koordiniert Termine, kümmert sich um die Anliegen der Bürger. Ein Problem mit dem Gartenweg hier, eine Schule, die geschlossen werden soll da, und ein neuer Supermarkt dort. Solche Sachen, übliche Kommunalpolitik. Doch im Moment ist alles anders. Auf einmal geht’s um Größeres, auf einmal werden sie alle zur Bundespolitik gefragt. Es ist das Thema bei einer Parteirunde in der vorigen Woche.

Unmut über die große Koalition

Während Union und SPD in Berlin um die Inhalte des Koalitionsvertrags feilschen, sitzt die SPD-Basis mit ihrem Vorsitzenden Johannes Schmidt zusammen und regt sich darüber auf, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Der 64 Jahre alte Gerd Mankowski hat einen Zeitschriftenartikel über das dänische Rentensystem mit in die Pizzeria gebracht, der 53-jährige Jan Willi Degen nur die pure Wut. Er hämmert mit der Faust auf den dunklen Holztisch und flucht über den falschen Zeitpunkt der Mitgliederbefragung: „Man hätte uns fragen sollen, ob wir überhaupt für eine große Koalition sind. Erst nach den Verhandlungen abzustimmen, ist doch sinnlos.“

Dabei hat der kleine Ortsverein in einem Stadtteil Flensburgs jetzt die Chance, große Politik mitzugestalten. Erstmals darf jedes Mitglied der SPD über den Koalitionsvertrag im Bund abstimmen. Rund 470 000 Frauen und Männer sind es, die Schwarz-Rot gewissermaßen legitimieren oder verhindern können – damit das Ergebnis gültig ist, müssen sich 20 Prozent beteiligen, tun es weniger, aber eine große Mehrheit stimmt für die große Koalition – dann, sagte ein SPD-Sprecher dieser Tage, „dann muss sich der Parteivorstand überlegen, wie er damit umgeht“. Mit ihrem Votum entscheiden die Mitglieder jetzt auch über die Zukunft der Sozialdemokratie und ihrer jetzigen Chefs. Sie könnten das Land in eine Regierungskrise befördern. Einfach so, mit einer Stimme, anonym, abgegeben per Briefwahl. Ob Frau Nahles wohl so viele E-Mails verschickt hätte, wenn es diesen Mitgliederentscheid nicht gäbe?

„Es ist auf jeden Fall eine gute Sache, dass wir mitbestimmen dürfen“, sagt Johannes Schmidt, dem die resolute Haltung von Herrn Degen dann doch zu weit geht. Man müsse sich den Vertrag erst einmal genau anschauen. Wenn bestimmte Punkte erfüllt seien, könnte sich Johannes Schmidt vorstellen, der Sache zuzustimmen. Gerd Mankowski, der ihm gegenüber hinter einem Bier sitzt, hebt eine Augenbraue und schnauft. „Das passt allein schon historisch nicht“, sagt er dann. „Wir haben eine 150-jährige Tradition und sollen dann als Juniorpartner in eine große Koalition gehen?!“

Ginge es nach der allgemeinen Stimmung am Tisch, gäbe es keine große Koalition. Adelby-Engelsby, ein ziemlich durchschnittlicher Ortsverein, ist mehrheitlich dagegen. Das hat auch der Chef festgestellt. Etwa 70 Mitglieder zwischen 18 und 89 betreut er, darunter Lehrer, Musiker, Verwaltungsangestellte, Elektriker, Beamte. Sie wohnen in dreigeschossigen Backsteinbauten, in sozialem Wohnungsbau oder Einfamilienhäusern. Hier, wo die Stadt Flensburg allmählich in dörfliche Strukturen übergeht, findet sich ein guter Querschnitt der SPD, „eine bunte Mischung“, wie es Johannes Schmidt ausdrückt.

Gemischte Gefühle beim Koalitionsvertrag

Zu der Mischung gehört neuerdings auch Daria Ievleva. Die 25-Jährige sitzt in der Pizzeria zwischen den beiden älteren Männern, die gar nicht mehr aufhören wollen, sich über die Nachteile von Schwarz-Rot zu echauffieren. Daria Ievleva schaut den beiden zu, als beobachte sie eine Pingpongpartie. Hin und her gehen die Argumente, hin und her geht ihr Blick. Irgendwann aber hat sie genug gehört. „Um etwas zu ändern, muss man etwas tun“, sagt sie. „Da kann man nicht nur an der Seite sitzen und zuschauen.“ Daria Ievleva ist erst nach der Bundestagswahl in die SPD eingetreten. Allein in Adelby-Engelsby hat Johannes Schmidt fünf neue Parteibücher ausgegeben.

Generalsekretärin Andrea Nahles begrüßte die vielen neuen Genossen ausdrücklich, obwohl gerade sie zum unkalkulierbaren Risiko werden können. Sind die vielleicht nur gekommen, um dagegen zu stimmen? Um ein bisschen Stunk zu machen? Daria Ievleva schüttelt den Kopf. Sie tendiert eher dazu, der Koalition eine Chance zu geben. Was sie allerdings merkwürdig findet, ist die Tatsache, dass sie bisher „keinen, wirklich keinen gefunden hat, der voller Inbrunst dafür ist“. Sie sollte vielleicht mal zu einem Einfamilienhaus am Stadtrand fahren, in die Nähe des Jachthafens.

Mehr Drive in der Partei

Sigmar Gabriel verhandelt mit Kanzlerin Angela Merkel über die Koalition, da klingelt Johannes Schmidt dort bei Gerstenberg. Edith Gerstenberg genauer gesagt, die er öfter mal besucht, weil sie gerne Probleme anspricht und noch lieber diskutiert. Drinnen bei ihr scheint die Zeit in den 1970er Jahren stehen geblieben zu sein, weiße Stühle, weiße runde Tische, braune Couchgarnitur. Edith Gerstenberg aber ist auf dem Laufenden. 84 Jahre alt ist sie und redet doch wie ein junges Mädchen: „Ich bin nicht so wild darauf, Merkel ein drittes Mal zu erleben. Aber wir wären doch mit Dummheit geschlagen, wenn wir nicht in eine große Koalition gehen würden.“

Es wirkt, als suche Frau Gerstenberg direkt einen kleinen Zwist mit dem Besuch, der nicht ganz so viel von der Koalition hält wie sie. Dann spricht sie Johannes Schmidt noch auf eine Veranstaltungsreihe an, die sie mit anderen älteren SPD-Mitgliedern organisieren wollte, die bisher aber nicht zustande gekommen ist. Johannes Schmidt hält dagegen und zählt ein paar Dinge auf, die zuletzt im Ort geschehen sind. Und tatsächlich gibt Frau Gerstenberg danach zu, dass „mehr Drive“ in die Partei gekommen sei. „Innerlich habe ich gejubelt darüber, wie jung unsere Partei im Kreis geworden ist“, sagt sie. „Sonst waren wir immer nur Weißköpfe, die über die alten Zeiten geredet haben.“

Die junge SPD grübelt. Johannes Schmidt denkt taktischer als jemand wie Edith Gerstenberg oder Jan Willi Degen. Es könne sein, dass er am Ende nicht emotional, sondern rational entscheide, sagt er. In seiner Position als Ortsvereinsvorsitzender muss er das vielleicht auch, „aber andere interessiert doch gar nicht, ob Gabriel mit dem Rücktritt droht“. Johannes Schmidt meint diejenigen, die sich nicht an der Parteiarbeit beteiligen. Um die acht Mitglieder kommen meistens zu den Ortsvereinssitzungen, die in einem Sportlerheim stattfinden. Acht von 70. Der Großteil ist inaktiv – ein Spiegelbild der Partei. Viele haben vor Jahren ihr Parteibuch erhalten und heute oft nicht mehr viel zu tun mit der Sozialdemokratie.

Abstimmen, aber wie?

Jan Willi Degen geht es so ähnlich. Vor Jahren war er einmal Bürgermeister, doch seit er eine Familie hat, ruht die Arbeit für die SPD weitgehend. Aufregen kann sich Degen aber noch wie früher. „Niemand hat die Parteispitze gezwungen, einen Mitgliederentscheid zu machen“, sagt er am späten Abend. „Aber wenn man mich fragt, bekommt man auch eine Antwort.“ Nein wird sie lauten.

Gerd Mankowski wird ebenfalls gegen den Koalitionsvertrag stimmen. Letztlich auch, weil die Lasten ungleich verteilt seien: „Immer mehr Menschen leben in Armut, und eine paar Privilegierte wissen gar nicht, wohin mit dem Geld.“

Daria Ievleva hat sich vorgenommen, die gesamten 185 Seiten des Vertrags zu lesen, bevor sie entscheidet.

Edith Gerstenberg findet, dass die Sozialdemokraten ihre Themen gut durchbringen konnten, und glaubt an die SPD in einer großen Koalition. „Was wären denn die Alternativen?“, fragt sie, ohne eine Antwort zu erwarten. Von ihr gibt es ein klares Ja.

Andrea Nahles wünschte sich wohl mehr solcher Mitglieder. Zusammen mit Sigmar Gabriel schickt sie nach den Verhandlungen noch eine Mail an Johannes Schmidt und all die anderen Mitglieder. „Jetzt bist du am Zug“, steht drin.

Johannes Schmidt ist unentschlossen. Der Mindestlohn war ihm wichtig, aber die Pkw-Maut hält er für ein Riesenproblem. „Dagegen haben wir im Wahlkampf explizit gekämpft.“ Vielleicht kann eine Regionalkonferenz, bei der die SPD an diesem Montag für die Koalition wirbt, seine Meinung noch beeinflussen. In jedem Fall aber wird er dabei sein, wenn die Entscheidung fällt. Händeringend hat die Partei Kräfte gesucht, die beim Auszählen der Briefwahlbögen in Berlin helfen. Johannes Schmidt überlegte nicht lange, als sie ihn am Telefon fragten. Seine SPD spendiert die Zugfahrt nach Berlin, die Hotelübernachtung – und eine Party.

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