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Politik: "Zurückgebombt" auf den Stand von 1945

BELGRAD .Die Schlangen vor den Verkaufsstellen werden jeden Tag länger und ziehen sich manchmal um mehrere Häuserblocks herum.

BELGRAD .Die Schlangen vor den Verkaufsstellen werden jeden Tag länger und ziehen sich manchmal um mehrere Häuserblocks herum.Wartezeiten von zwei bis drei Stunden sind keine Seltenheit.Alt und Jung stellen sich an, um zu den erlaubten zwei Stangen Zigaretten zu kommen.Polizisten in Zivil schauen Kunden in die Einkaufstaschen, um zu kontrollieren, ob sich die Verkäufer auch an die Vorschriften halten.Zigaretten sind Mangelware, seitdem NATO-Flugzeuge die größte Tabakfabrik bombardiert haben.

Insgesamt sind 31 größere Fabrikanlagen im ersten Kriegsmonat zerstört worden.Der Schaden wird auf 100 Milliarden Dollar geschätzt.20 Straßen- und Eisenbahnbrücken wurden zerstört oder schwer beschädigt.Nach zehn Jahren unter UN-Sanktionen war das Land bereits auf das Niveau von 1968 zurückgeworfen.Nach einem Monat Luftangriffen habe die NATO Jugoslawien auf den Stand vom Ende des Zweiten Weltkrieges "zurückgebombt", sagen Belgrader Wirtschaftsexperten.

Petrohemija in Pancevo, wenige Kilometer von Belgrad, galt noch vor einem Monat als eine der wenigen "Perlen" der jugoslawischen Wirtschaft.Heute ist von dem Werk, an dem einst sogar ausländische Investoren Interesse zeigten, nicht viel übrig.Die ölverarbeitende Wirtschaft galt als ein Schlüsselsektor, der vom Regime in Belgrad hätte schrittweise in Devisen umgemünzt werden können.Auch die größten Raffinerien, bei Novi Sad und Pancevo, sind fast vollständig zerstört.NATO-Flugzeuge haben die Lager der Tankstellenbetreiber Jugopetrol und Beopetrol in Smederevo bombardiert.Schon jetzt kostet auf dem Schwarzmarkt ein Liter des rationierten Treibstoffs drei bis vier Mark.Nach Angaben der staatlichen Mutterfirma NIS waren die Betreiber für eine erste Privatisierungswelle vorgemerkt.Die Zukunft sieht düster aus: Jugoslawien wird nach einem Ende des unerklärten Kriegs teuren Treibstoff importieren müssen.Auch die Angriffe auf die Düngerfabriken in Pancevo und Novi Sad sind eine besonders schwere Hypothek.Jugoslawien ist ein Agrarland und hat die Jahre der Isolation nur dank eigener Lebensmittelproduktion überlebt.In den letzten Jahren stieg der Anteil der Landwirtschaft am Bruttosozialprodukt von 35 auf fast 50 Prozent.1990 war Jugoslawien noch eines von weltweit 20 Ländern mit einer eigenen Autoproduktion.In Zukunft wird es vollständig von Importen abhängig sein.Die NATO hat die Zastava-Werke bei Kragujevac dem Erdboden so gut wie gleich gemacht.Böse Zungen spotten wegen der ohnehin niedrigen Produktivität, die NATO habe dem Regime die unlösbare Restrukturierung maroder Betriebe "abgenommen".In Kragujevac wurden noch immer alle 35 000 Arbeitnehmer auf den Lohnlisten geführt, die Interessenten Fiat und Peugeot hätten mit nur 2000 Menschen arbeiten wollen.Gewerkschaftsführer Tomislav Banovic sagt, die Angriffe hätten in nur einem Monat 100 000 Beschäftigten die Arbeit gekostet.Unabhängige Experten schätzten die Arbeitslosenrate schon vor Beginn der Angriffe auf über 50 Prozent.Städte wie Kragujevac, Nis oder Pancevo, oft von einem oder wenigen Arbeitgebern abhängig, werden nach Kriegsende vor enormen sozialen Problemen stehen.

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