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Die Physikerin Lise Meitner und ihr Kollege Otto Hahn (1938)

© Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem

Blick auf Fluch und Segen der Forschung: Wie sich die Wissenschaft kritisch selbst reflektiert

Die Ausstellung „Dual Use“ im Henry-Ford-Bau zeigt den zweifachen Nutzen von wissenschaftlichen Erkenntnissen.

Von Dennis Yücel

In der Wissenschaft wird diese Ambivalenz mit dem Schlagwort „Dual Use“ gefasst – zweifacher Nutzen. „Ursprünglich bezeichnet der Begriff die doppelte Verwendbarkeit von Forschung für sowohl zivile als auch militärische Zwecke“, sagt Jens Rolff, Professor für Evolutionsbiologie an der Freien Universität Berlin. „Man kann ihn aber auch im weiteren Sinne verstehen, als Fluch und Segen von Wissenschaft insgesamt.“

Gemeinsam mit Sven Chojnacki, Professor am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft und Vizepräsident der Freien Universität, hat Jens Rolff an der Freien Universität einen interdisziplinären Arbeitskreis zur „Dual Use“- Problematik gegründet. Forschende aus den Natur- und Gesellschaftswissenschaften reflektieren dort gemeinsam über die ethischen Herausforderungen ihrer Arbeit. Aus der Zusammenarbeit ist nun eine Ausstellung entstanden, die vom 26. Oktober an im Henry-Ford-Bau zu sehen ist. „Verschiedene Fachbereiche geben dort Einblick in kritische Themen“, sagt Jeannette Hagen, die an der Freien Universität Politikwissenschaft studiert hat und an der Ausstellung mitwirkt. „Dies kombinieren wir mit künstlerischen Arbeiten, die einladen, über die ethischen Fragen selbst zu reflektieren.“

Aktuelle Herausforderungen für die Wissenschaft lägen etwa in der Künstlichen Intelligenz, der Genforschung oder der Arbeit mit Viren. „Die Forschung an Viren ist sehr sinnvoll, etwa um Impfstoffe zu entwickeln“, sagt Jens Rolff. „Man kann allerdings auch besonders ansteckende Viren entwickeln, die als Kampfstoffe eingesetzt werden oder unbeabsichtigt aus Laboren entweichen können.“ Wissenschaft könne auch ungewollt zu negativen Konsequenzen führen – so könnten etwa harmlose Fotografien und Satellitenaufnahmen, zum Beispiel von archäologischen Grabungen, von autoritären Regimen zur Bespitzelung missbraucht werden.

Den Impuls zur Gründung eines Arbeitskreises, sagt Jens Rolff, habe er auch mit Blick auf die Geschichte der Freien Universität und der Dahlemer Forschungslandschaft gehabt: Im heutigen Hahn-Meitner-Bau der Freien Universität entdeckten die Chemiker Otto Hahn und Fritz Straßmann im Dezember 1938 die Kernspaltung – und legten damit die Grundlage nicht nur für die Kernenergie, sondern auch die Entwicklung der Atombombe.

Die kernphysikalische Erklärung lieferten allerdings erst deren ehemalige Kollegin Lise Meitner und ihr Neffe Otto Frisch wenige Wochen später: Lise Meitner war wegen ihrer jüdischen Abstammung im Sommer 1938 aus Berlin geflohen, stand aber mit Otto Hahn aus dem schwedischen Exil in enger schriftlicher Verbindung. In unmittelbarer Nachbarschaft, im heutigen Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft, wurde während des Ersten Weltkriegs Senfgas als Nervengift entwickelt. „Beide Orte stehen für große wissenschaftliche Durchbrüche“, sagt Jens Rolff. „Und gleichzeitig für fürchterliche Konsequenzen in beiden Weltkriegen.“

Paradoxerweise könne „Dual Use“ aber auch in die umgekehrte Richtung wirken – militärische Entwicklungen können zu Fortschritten in zivilem Bereich führen. Aus den Experimenten mit Senfgas seien schließlich wichtige Krebsmedikamente entstanden.

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