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Rekorde zwischen Häuserschluchten. Mit den City Games in Manchester geht die Leichtathletik neue Wege – auch in deutschen Städten gibt es immer mehr Events. Foto: Reuters

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Sport: Auf einer neuen Umlaufbahn

Die Leichtathletik steht vor einer Zerreißprobe: Soll sie noch im Stadion ihre Vielfalt feiern oder sich auf der Straße ein neues Publikum suchen? Kritiker sehen den Sport auf dem Weg zum Zirkus

Die Leichtathletik ist an diesem Wochenende wieder zwei Tage zu Hause. Dort, wo sie herkommt, im Stadion. In Kassel finden die deutschen Meisterschaften statt. Es ist eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen sich in Deutschland noch die besten Athleten aus allen Disziplinen treffen, Werfer, Läufer, Springer. Immer häufiger verlässt die Leichtathletik das Stadion, um auf großen Plätzen mit ausgewählten Athleten für sich zu werben. So oft, dass ihr eine Zerreißprobe droht.

In vielen deutschen Städten hat die Leichtathletik beim Umbau von großen Stadien die Laufbahnen verloren. Einige prominente Meetings sind verschwunden. Zu den wenigen Gelegenheiten, bei denen sich die deutschen Spitzenathleten noch dem Publikum präsentierten, gehörte bislang die Gala des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV) in Bochum-Wattenscheid. Sie hätte am 13. August stattfinden sollen. Doch das Präsidium des DLV hat sie abgesagt und sich stattdessen für eine neue Veranstaltung namens „Berlin fliegt“ am 12. August vor dem Brandenburger Tor entschieden. Weit- und Hochspringer werden sich dort bei einem Länderkampf messen.

„Es ist nicht die Aufgabe eines Verbandes, Schaukämpfe am Brandenburger Tor zu veranstalten, sondern die Leichtathletik im Stadion zu entwickeln“, sagt Gerhard Janetzky, der Präsident des Berliner Leichtathletik-Verbandes. Er ist auch Meeting-Direktor des Istaf. „Die Leichtathletik verkommt zum Zirkus. Und wo sollen deutsche Athleten noch ihre Normen für internationale Wettkämpfe erzielen können, wenn im Stadion nichts mehr stattfindet?“, fragt Janetzky.

Die Leichtathletik scheint auf jeden Fall gerade einen Teil ihrer Identität in- frage zu stellen: die Vielfalt. Bei Weltmeisterschaften finden 47 verschiedene Disziplinen statt. Doch ansonsten gibt es immer mehr Einzelveranstaltungen wie Kugelstoßen auf dem Marktplatz in Biberach, Werfen in Halle an der Saale, Hochspringen in Eberstadt. „Wenn es so weitergeht, geht unser Sport kaputt“, befürchtet Janetzky. In seiner Rolle als Verbandspräsident entdeckt er nun offenbar die Tradition der Leichtathletik. Er fordert eine neue Serie von „vier, fünf starken Vollmeetings, eine Golden League für Deutschland. Diese Serie könnte auch für Sponsoren interessant sein. Und was die Athleten mit Ausstrahlung angeht, sind wir doch in Deutschland gerade so gut dran wie seit 15 Jahren nicht mehr.“

Der Präsident des DLV, Clemens Prokop, verteidigt den Kurs seines Verbandes. „Es muss unsere Aufgabe sein, die Faszination der Leichtathletik zum Publikum zu bringen. Eine Reihe von Disziplinen sind aus unmittelbarer Nähe noch spannender, es ist etwas ganz anderes, die Stabhochspringer auf gleicher Höhe zu erleben als von einer Tribüne herunter.“ Warum also nicht bei freiem Eintritt auf einen der bekanntesten Plätze des Landes gehen, den Pariser Platz? „Solche Veranstaltungen dürfen kein Spektakel werden, sondern müssen ihre Wettkampfstruktur beibehalten“, sagt Prokop. Ohnehin seien dabei natürliche Grenzen gesetzt: „Hammerwerfen oder Hindernislauf sind am Brandenburger Tor nur schwer möglich.“

Vom Auszug aus dem Stadion und dem Einzug in die Innenstädte profitieren nur wenige Disziplinen. Der Streit um den richtigen Weg dürfte sich ohnehin verschärfen, weil die Leichtathletik um Aufmerksamkeit, Fernsehverträge und Sponsoren kämpfen muss. Und weil es immer schwerer wird, dabei die Balance zu halten zwischen einer attraktiven Präsentation und der Anforderung nach objektiv vergleichbaren Leistungen.

Was auf der Straße möglich ist, das ist jedes Jahr in Manchester zu sehen. Mitten in der Stadt steht dort eine Laufbahn zum Sprinten. 300 Meter der traditionellen Einkaufsstraße Deansgate werden für die Leichtathletik gesperrt. Die „Great City Games“ sind Teil des „Great Day of Sport“, der seit 2009 in Manchester organisiert wird. Dazu gehört ein 10-Kilometer-Straßenlauf mit 30 000 Teilnehmern. Alle Wettbewerbe sind hochkarätig besetzt. Der „Great Day of Sport“ wird von der BBC live rund fünf Stunden lang übertragen. In der Regel sehen es mehr als zwei Millionen Zuschauer. „Diese Veranstaltung hat eine wunderbare Atmosphäre. Morgens gibt es den Straßenlauf und nachmittags das Bahn-Meeting“, sagt Haile Gebrselassie, der das 10-Kilometer-Rennen bereits viermal gewonnen hat. „Immer wenn ich hierher komme, passiert etwas ganz Besonderes.“

Als die City Games vor zwei Jahren ihre Premiere hatten, startete Usain Bolt. Der Jamaikaner stellte mit 14,35 Sekunden einen 150-Meter-Weltrekord auf. Ein Jahr später brach Tyson Gay aus den USA die 200-Meter-Bestzeit mit 19,41 Sekunden. Wenn Tyson Gay durch Deansgate sprintet, stürmt er vorbei an etwa 3000 begeisterten Zuschauern auf beiden Seiten der Bahn, an Pubs, Wettbüros, Cafés, einer Bank sowie Bürohäusern. Die Zuschauer stellen sich auf Fensterbretter im Hochparterre, andere schauen von weiter oben aus den Fenstern zu. Im Pub gab es auch schon Buh-Rufe Angetrunkener, die Fußball sahen, aber das wird mit britischem Humor genommen – und trägt zu der besonderen Stimmung bei.

Den Zuschauern bieten die City Games die Möglichkeit, so dicht an die Stars heranzukommen wie in keinem Stadion. In Deansgate erreicht die Leichtathletik zudem Zuschauer, die noch nie in einem Stadion waren. „Wir rennen teilweise in einer etwas erhöhten Position, also fast direkt an den Köpfen der Zuschauer vorbei. Hier auf der Straße können sie durch die Nähe viel besser beurteilen, welche Leistungen wir produzieren“, sagt Großbritanniens 400-Meter-Olympiasiegerin Christine Ohuruogu. „Ich finde es eine tolle Idee, die Leichtathletik aus dem Stadion auf die Straße zu holen.“ Ist Manchester kopierbar? Vertreter des amerikanischen Leichtathletik-Verbandes haben die City-Games bereits genau studiert.

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