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Verena Bentele, 40, begann bereits vor Ende ihrer sportlichen Karriere, sich auf hoher Ebene sozialpolitisch zu engagieren. Von 2014 bis 2018 war sie die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung. Seit 2018 leitet sie als Präsidentin den größten deutschen Sozialverband VdK.

© dpa

Paralympicssiegerin Verena Bentele im Interview: „Das ganze Dorf stand Kopf – so wie jetzt bei Kazmaier und Walter“

Verena Bentele gewann zwölf Goldmedaillen bei den Paralympics. Die ehemalige Langläuferin über den deutschen Nachwuchs, ihr politisches Engagement und das nächste Abenteuer.

An dieser Stelle berichtete das Team der Paralympics Zeitung, ein Projekt von Tagesspiegel und der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung. Alle Texte zu den Spielen rund um Peking finden Sie hier. Aktuelles finden Sie auf den Social Media Kanälen der Paralympics Zeitung auf Twitter, Instagram und Facebook.

Frau Bentele, bei den Paralympics in Peking haben mit Linn Kazmaier und Leonie Walter zwei junge Sportlerinnen aus dem deutschen Ski-Nordisch-Team eine Goldmedaille gewonnen. Welches Zeichen geht davon aus?

Es war wirklich großartig, den beiden zuzuschauen. Ein starker Nachwuchs ist wichtig für den Para-Sport. Normalerweise sieht man bei internationalen Wettkämpfen immer die gleichen Gesichter über einen längeren Zeitraum. Mit Linn Kazmaier und Leonie Walter sind jetzt junge deutsche Para-Athletinnen am Start, die dem Sport sehr guttun. Außerdem sind ihre Ergebnisse bei den Paralympics ein Beweis für die erfolgreiche Arbeit im Langlauf und Biathlon. 

Erinnern Sie sich denn noch an Ihren ersten Start im Nationaltrikot?

Mein erster Start im Nationaltrikot bei einem größeren Wettkampf war eine Weltmeisterschaft und das war einigermaßen deprimierend für mich. Ich hatte eine schlimme Erkältung und habe mich ziemlich gequält. Aber ich war trotzdem mega stolz und super aufgeregt, obwohl niemand von mir etwas erwartet hat. Es sollte mir nur Spaß machen. Man hat natürlich viel mehr Erwartungen an sich selbst, und die Aufregung vor dem Wettkampf ist dann auch gut, damit man durch das Adrenalin seine Topleistungen aus sich herausholen kann.

Als Sie 1998 in Nagano Ihre erste Goldmedaille gewonnen haben, waren Sie 16 Jahre alt. Wie hat der frühe Erfolg Ihr Leben verändert? 

Ich erinnere mich noch genau an die Euphorie und wie es für mich war, nach Hause zu kommen. Das ganze Dorf stand damals Kopf, so wie jetzt auch bei Kazmeier und Walter. Zum ersten Mal stand nicht meine Behinderung im Vordergrund, sondern meine sportliche Leistung. Die Medaillen und der sportliche Erfolg waren prägend für meinen Lebensweg und das wird sicherlich auch bei den beiden Nachwuchssportlerinnen der Fall sein.

Sie feierten insgesamt zwölf Paralympics-Siege und wurden vierfache Weltmeisterin. Welche Momente Ihrer sportlichen Laufbahn bleiben Ihnen besonders im Gedächtnis?

Ich erinnere mich besonders gerne zurück an Trainings, bei denen ich das Gefühl hatte, etwas Neues gelernt zu haben, einen Bewegungsablauf verinnerlicht oder eine neue Technik verstanden zu haben. Und natürlich ist es auch immer ein tolles Gefühl, bei einem Wettkampf durch ein Stadion zu laufen, wo gejubelt wird und man weiß, dass man gleich die Goldmedaille gewinnen wird. Im Ziel zu keuchen, völlig erschöpft zu sein, aber zu wissen, es hat gereicht, das ist ein schönes Gefühl, welches man ehrlicherweise im Job nicht jeden Tag so hat, zumindest nicht bei meiner politischen Arbeit.

Verena Bentele gewann zwölf Goldmedaillen bei Paralympischen Spielen.
Verena Bentele gewann zwölf Goldmedaillen bei Paralympischen Spielen.

© Imago

Welche Lehren für den Alltag ziehen Sie aus Niederlagen?

Man muss wieder Wege finden, um aufzustehen, zu trainieren, sich reinzuhängen und an den nächsten Wettkampf zu denken. Das ist ein ganz großer Gewinn und eine gute Möglichkeit, das im Sport zu trainieren, denn das braucht man auch immer wieder im täglichen Leben. 

Kommt daher auch Ihr Ehrgeiz und Durchhaltevermögen?

Sicherlich hat mir der Sport einiges an Ausdauer vermittelt, die ich brauche, um auch schwierige Phasen auf der Arbeit gut hinzukriegen und nach langen Tagen noch Energie zu haben. Der Sport hat für mich aber auch immer Teamgeist bedeutet.

Inwiefern?

Für mich hat der Sport auch bedeutet, ein gutes Team zusammenzustellen, dem ich vertrauen kann. Ein Team, mit dem ich die Erfolge erringen kann, und wo ich weiß, dass für die anderen die Teamleistung genauso wichtig ist, nicht nur die eigene Leistung. Das brauchen wir auch im Leben, egal ob in privaten Beziehungen oder im Job.

Wie kommen denn diese funktionierenden Konstellationen zustande?

Für mich war das schon immer ein bisschen Glück, Zufall und natürlich auch eine intensive Suche. Ich habe dann mit verschiedenen Leuten Langlauf und Biathlon probiert und geschaut, mit wem es gut passt. Es musste aber sowohl für den Begleitläufer als auch für mich funktionieren. Es war schwierig, jemanden zu finden, der mit mir gemeinsam für meine sportlichen Ziele gebrannt hat und nicht nur vor allem für sich selbst unterwegs war. Es ist auch nicht einfach, jemanden zu finden, der das Tempo schafft und so viel trainieren will. 

Nach Ihrer Wintersportkarriere haben Sie andere sportliche Höchstleistungen vollbracht, wie die Besteigung des Kilimanjaros oder diverse Radmarathons. Wie kommen Sie auf Ihre außergewöhnlichen Ideen?

Ich hatte immer schon Spaß daran, mich richtig zu fordern und zu gucken, was ich aus meiner physischen und mentalen Stärke herausholen kann. Wenn mir Freunde von Radmarathons erzählen, dann bin ich sofort begeistert. Ich finde es total faszinierend, was ein Körper alles schafft und wie man auch alles durchziehen kann, wenn man ein Ziel hat. Das finde ich total irre.

Sind schon weitere Abenteuer geplant?

Ja, ich überlege gerade. Mit der Pandemie ist das gerade nicht ganz einfach, aber es gibt noch wirklich schöne und verrücke Fahrradrennen. 300 Kilometer um den Vetternsee in Schweden, das wäre cool. Oder auch mal etwas in Deutschland. Ich mag es, wenn es ein bisschen länger ist. 40 Kilometer faszinieren mich persönlich weniger als 200 Kilometer.

Frau Bentele, Sie wurden nach Ihrer sportlichen Karriere die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, sind Mitglied in der SPD und Vizepräsidentin beim Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB). Warum haben Sie sich entschlossen, sich sozial und politisch zu engagieren?

Politik war für mich immer spannend, wir haben in der Familie auch immer über Politik diskutiert. Ich hatte früh die Überzeugung, dass man, wenn man etwas verändern will, am besten selbst etwas dafür tut. Es verändert sich nichts, wenn man nur zuhause sitzt und schimpft. Ich glaube sehr daran, dass Veränderung nur erreicht wird, wenn man selbst aufsteht und dafür eintritt, und etwas investiert, um die Veränderungen zu erreichen. Das finde ich total wichtig und deshalb habe ich mich immer für politisches Engagement interessiert. 

Welchen Stellenwert hat Inklusion in der deutschen Spitzenpolitik?

Sie hat noch immer nicht den Stellenwert, den ich mir wünsche. Der Bereich Inklusion wird oft zum Sozialen oder der Gesundheit gepackt, aber es ist ein Querschnittsthema, welches überall eine Rolle spielen muss. Auch im Sport. Wenn zum Beispiel Sportanlagen gebaut, renoviert oder saniert werden, muss die Barrierefreiheit ein wichtiges Kriterium sein. Die Leistungssportförderung ist schon gut, aber wir haben in der Pandemie gesehen, dass der Sport noch nicht den Stellenwert hat, den wir uns als Präsidium beim Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) wünschen. Es hätte viel mehr Zeit und Energie investiert werden müssen, auch politisch, um Menschen mit Behinderung, Kindern und Jugendlichen und Seniorinnen und Senioren Sport zu ermöglichen. Da muss wirklich etwas passieren.

Wie können sich Menschen mit Behinderung zum Sport motivieren?

Die Paralympics zeigen deutlich, zu welchen sportlichen Leistungen Menschen mit Behinderung fähig sind. Sport leistet in ihrem Alltag einen wichtigen Beitrag für mehr Selbstständigkeit und die wiederum ist ein zentraler Baustein der Inklusion. Es geht eben nicht nur darum, im Alltagsleben Nachteilsausgleiche zu schaffen, sondern den Menschen mit Behinderung auch die Möglichkeit zu geben, sich sportlich zu betätigen. Der Reha-Sport, wie er von der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung gefördert wird, ist da ein wichtiger Baustein. 

Worin sehen Sie Ihre Rolle als Vize-Präsidentin beim DOSB?

Wir haben uns entschieden, keine Ressortzuständigkeit zu haben. Wir verteilen die Aufgaben, Projekte und Zuständigkeiten dann, wenn sie entstehen. Dadurch bin ich als ehemalige paralympische Sportlerin nicht nur für die Paralympics zuständig. Wir möchten den Blickwinkel etwas weiter fassen und die Perspektiven offener gestalten. Das empfinde ich als einen sehr guten Ansatz. Natürlich setze ich mich weiter für meine Leidenschaft, den paralympischen Sport ein und auch für die Zusammenarbeit zwischen dem DOSB und dem Nationalen Paralympischen Komitee (NPC).

Was sollte sich an der Zusammenarbeit zwischen dem DOSB und dem NPC verändern?

Ich wünsche mir eine Verbesserung der Strukturen und einen Fortschritt in den Gesprächen mit den internationalen Verbänden und den Veranstaltern von Wettkämpfen. Da sollte mehr Hand in Hand gearbeitet werden, um mehr Möglichkeiten und bessere Rahmenbedingungen für den paralympischen Sport zu schaffen. Da gibt es noch Bedarf.

Die russischen und belarussischen Teilnehmenden wurden von den Paralympics in Peking ausgeschlossen, der Krieg in der Ukraine überschattet die Spiele. Wie sehen Sie die Verbindung von Sport und Politik?

Für die Sportlerinnen und Sportler tut es mir persönlich extrem leid, aber ich finde die Entscheidung des IPC absolut richtig. Sport hat leider schon längst eine politische Komponente bekommen. Für mich bedeutet Sport fairer Wettstreit nach Regeln. Sport soll der Völkerverständigung und den Menschen dienen und nicht den politischen Systemen.

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