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Sport: Niemand geht, alle rennen

In Kenia ist das Laufen eine Notwendigkeit, die nebenbei Weltklasseathleten hervorbringt

Andere Länder, andere Sitten. Auch im Sport gilt dieser Satz. Wir beschreiben in loser Folge, welche Sportarten Nationen prägen, und warum das so ist.

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Das Laufen als kenianischen Volkssport zu bezeichnen, kommt der Wahrheit nur bedingt nahe. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern der Welt ist diese Form der Fortbewegung in dem ostafrikanischen Staat weit davon entfernt, ein Hobby oder eine Freizeitbeschäftigung zu sein. Laufen ist viel mehr: Es ist in dem infrastrukturell kaum entwickelten Land eine simple Notwendigkeit. Abseits davon bietet es natürlich auch eine große Chance zum sozialen Aufstieg, wenn aus der Notwendigkeit doch irgendwann einmal Sport wird.

Ein typisches Beispiel dafür bietet Abraham Chebii. Wie die meisten kenianischen Topläufer entstammt er armen Verhältnissen. Als drittes von sieben Kindern ist er auf einer Farm im Great Rift Valley aufgewachsen, im westlich gelegenen Hochland musste er jeden Tag zu Fuß zur Schule. „Es ist normal für kenianische Kinder, dass sie zur Schule rennen. Niemand geht, alle rennen“, erklärt Chebii. Die Schulwege auf unbefestigten Straßen sind oft hügelig, die Kinder rennen in der Regel barfuß. Für Chebii betrug die einfache Strecke zur Schule drei Kilometer. Da er in der Mittagspause nach Hause rannte und dann wieder zurück, lief Chebii täglich zwölf Kilometer. „Wir haben immer bis zum letztmöglichen Zeitpunkt gewartet, bevor wir losliefen“, erzählt Chebii. „Außerdem sollten wir zum Essen pünktlich sein. Daher hatten wir gar keine andere Wahl – wir mussten rennen.“

Damit hat Abraham Chebii wie viele andere Kollegen unbewusst eine Grundlage gelegt für seine Karriere. Zwar hat er schon als Kind den Hindernisläufer Moses Kiptanui bewundert, doch zunächst war er nicht sonderlich erfolgreich bei Schulwettbewerben über die Mittelstrecken oder im Cross. Andere liefen schneller. Als nicht genug Geld vorhanden war, um ein Studium zu finanzieren, setzte Abraham Chebii auf den Laufsport. Und er hatte Glück. In den Langstreckenrennen zeigte er Talent – und so war es ausgerechnet Moses Kiptanui, der ihn eines Tages ansprach und in ein Trainingslager mitnahm.

Laufen ist der Exportschlager Kenias. 70 Prozent der rund 150 weltweit bedeutendsten Straßenrennen haben die kenianischen Männer im vergangenen Jahr gewonnen, bei den Frauen liegt die Quote bei etwa 45 Prozent. Im Marathon ergibt sich ein ähnliches Bild. In Berlin zum Beispiel kam der Marathonsieger in den letzten sechs Jahren immer aus Kenia. In den letzten vier Jahren belegten Kenias Männer dabei mindestens die ersten drei Plätze. Beim legendären Boston-Marathon stellte Kenia in den letzten 15 Auflagen nur zweimal nicht den Sieger.

Der Erfolg der Läufer hat inzwischen auch eine wirtschaftliche Bedeutung im westlichen Kenia, der Heimat der meisten Topläufer. „Das Geld, das die kenianischen Läufer in Europa und Amerika verdienen, investieren sie in Kenia im westlichen Hochland, meist in Farmland“, erklärt Tom Radcliffe, der amerikanische Manager der Trainingsgruppe Kimbia, die sich hauptsächlich aus Kenianern zusammensetzt. „Dies ist dort inzwischen ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor, der auch Arbeitsplätze schafft.“

Natürlich sind längst nicht alle kenianischen Läufer Stars in ihrer Heimat. Nur wer Goldmedaillen holt, Weltrekorde bricht oder ein großes Marathonrennen gewinnt, der kann sich der Anerkennung der Menschen in Kenia gewiss sein. „Ich möchte als großer Läufer bekannt werden, deswegen muss mein Name in die Rekordbücher“, hat Daniel Komen einmal gesagt. Er hat es geschafft: Seit fast zehn Jahren sind seine Weltrekorde über 3000 Meter und 2 Meilen unangetastet. Heute gilt Komen als einer der größten kenianischen Läufer aller Zeiten. Und als Paul Tergat nach seinem Marathon-Weltrekord in Berlin 2003 nach Kenia zurückkehrte, wurde ihm eine ganze besondere Ehre zuteil: Tergat wurde stundenlang in einem offenen Auto durch das Land gefahren. Vermutlich wäre er lieber gelaufen.

Bisher erschienen: Thaiboxen in Thailand, Pétanque in Frankreich, Badminton in Indonesien, Hurling in Irland, Eisschnelllaufen in den Niederlanden und American Football in den USA.

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