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Kampf ums Gleichgewicht. Der Österreicher Georg Streitberger stürzte bei der Abfahrt in Chamonix, einer von mehreren schweren Unfällen in den vergangenen Wochen. Foto: dpa

© dpa

Ski alpin: Die neue Angst auf der Piste

Nach vier Stürzen in drei Tagen fällt bei den Skirennfahrern erstmals das bisherige Tabuwort Angst.

Berlin - Georg Streitberger lag am Sonntag auf dem OP-Tisch, die Chirurgen mussten sich um seinen gebrochenen äußeren Schienbeinkopf kümmern. Die Ski-WM in Garmisch, die nächste Woche beginnt, kann sich der Österreicher jetzt natürlich abschminken, schade für ihn, immerhin führt er die Super-G-Gesamtwertung an. Streitberger war Nummer sieben: Sieben schwer gestürzte Skifahrer in fünf Wochen, vier davon in den vergangenen drei Tagen.

Streitberger erwischte es am Samstag bei der Abfahrt in Chamonix, er kam noch vergleichsweise glimpflich davon. Beim schlimmsten Fall befindet sich der Patient gerade in der Aufwachphase des künstlichen Komas: Der Österreicher Hans Grugger war nach einem Fahrfehler auf der Streif mit dem Kopf auf die beinharte Piste aufgeschlagen und musste noch auf der Strecke intubiert werden.

Sieben schwere Stürze in gut einem Monat, logisch, dass die Sicherheitsdiskussion einsetzte. Reflexartig fast, die x-te Auflage. Doch in einem Detail läuft sie jetzt anders als sonst.

Das Detail ist das Wörtchen „Angst“.

Skirennfahrer reden so gut wie nie von „Angst“, aktive Rennläufer zumindest, sie reden von „Respekt“. Eine verbale Schutzmauer. Die Läufer spüren diese Angst, selbstverständlich, aber sie zeigten sie nicht. Erst nach der Karriere sind sie ehrlicher, da kann man keine Sponsoren, Fans oder Medien erschrecken, da muss man sich auch nicht mehr selber vor Zweifeln schützen. Aber jetzt reden manche schon direkt nach den Rennen von Angst. Es ist ein Signal, dass sich etwas verändert, ein bisschen zumindest.

Kurz nach Gruggers Sturz stand Mario Scheiber, Gruggers Teamkollege, im Zielraum und sagte: „Ich habe Angst gehabt.“ Der Österreicher Benjamin Raich sagte ein paar Minuten später: „Ich bin froh, dass ich hier stehen und reden kann.“ Er meinte: Ich hatte Angst. Eine Woche später lag Scheiber selbst im Krankenhaus, Diagnose Schlüsselbeinbruch. Er war in Chamonix gestürzt. Ivica Kostelic, der Führende im Gesamt-Weltcup, kritisiert jetzt den Weltverband Fis, dieser mache zu wenig für die Sicherheit der Fahrer.

Das ist ein Satz, der dramatisch und gut klingt. Aber wenn man ein wenig dahinter blickt, wird schnell klar, dass die ganze Sicherheitsdiskussion letztlich nicht viel bringt. Sie ist eher ein Zeichen schlechten Gewissens bei einer umfassenden Heuchelei.

Die Fis hat schon viel verbessert: mehr Fangzäune, veränderte Streckenführung, Protektoren, die den Aufprall der Fahrer stark abmildern. Es gibt ein Projekt, in dem ein sichererer Ski entwickelt wird, und eine Firma, die für Motorrad-Rennfahrer Anzüge mit Airbag entwickelt hat, wird prüfen, ob so eine Innovation auch für den alpinen Skisport geeignet ist.

Aber das größte Sicherheitsrisiko bleibt: der Mensch.

Die Fahrer suchen die brutalste, schnellste Linie, die Fans wollen spektakuläre Bilder, die Veranstalter brauchen diese Bilder, um Sponsoren zu bekommen, das Fernsehen braucht diese Bilder, um Quote zu erzielen. Den unbestritten zynischsten Höhepunkt der Heuchelei lieferte ein Live-Reporter, als er beim Rennen auf der Streif, nach Gruggers Sturz, den früheren Weltklasse-Abfahrer Marco Büchel fragte: „Muss man jetzt nicht die Sinnfrage stellen?“ Die Sinnfrage! Das sagte ein Vertreter eines Senders, der deshalb besonders gern Kitzbühel überträgt, weil die Streif die spektakulärste und schwerste Abfahrt der Welt ist.

Bei der WM fahren sie auf der berühmten Kandahar-Strecke. In den WM-Berichten müsste auch erwähnt werden, dass hier 1994 die Österreicherin Ulrike Maier mit 105 Stundenkilometer frontal gegen eine Geschwindigkeitsmessanlage geprallt war und tödlich verletzt wurde. Sie war ein Opfer der damals neuen, taillierten Ski. Diese hatten eine fatale Drehbewegung eingeleitet.

Die Veranstalter in Garmisch hätten natürlich lieber Berichte über die Strecken-Passage, die sie neu gebaut haben. Sie nennt sich „Freier Fall“, hat 90 Prozent Gefälle und ist Teil der WM-Werbung. 90 Prozent Gefälle muss nicht gleichbedeutend mit Lebensgefahr sein, aber es ist eine plakative Zahl, 90 Prozent steht auch für das Spektakel, das man bieten möchte und das alle mitmachen. „Man kann uns schon moderne Gladiatoren nennen“, hatte der ehemalige deutsche Abfahrer Max Rauffer mal erklärt.

Einer der Gladiatoren ist gerade mit einem Kreuzbandriss außer Gefecht. Der Kanadier Manuel Osborne-Paradis stürzte ebenfalls in Chamonix. Er gehört nicht zu denen, die über Angst reden, er steht für den coolen Typen. „Manchmal verkantest du“, sagte er. „Das gehört zum Sport, kein Grund zu lamentieren.“

Zynisch? Sicher. Aber vielleicht auch nur auf brutale Weise ehrlich.

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