zum Hauptinhalt
Kleinstgewerkschaften verfolgen offen und ohne Rücksicht aufeinander ihre Ziele.

© dpa

Unternehmervereinigungen und Gewerkschaften: Deutschlands Verbände stecken in der Krise

Rücksichtslose Kleinstgewerkschaften, autark agierende Konzerne und Unternehmergruppen derselben Branche, die verschiedene Anforderungen an die Politik richten: Es wird Zeit für eine gemeinsame Strategiedebatte bei BDI, DGB, DIHK & Co.

Von Antje Sirleschtov

Weihnachten ist Wunschzettel-Zeit, und das gilt unterm Tannenbaum zu Hause genauso wie unter dem, der vor dem Bundeskanzleramt steht. Und da türmen sich denn auch in dieser Adventszeit wieder die Zettelberge. Soli muss weg: 15 Milliarden Euro. Kalte Progression beenden: 30 Milliarden. Abschreibungen unternehmerfreundlich machen, Erbschaftsteuer senken, Energiekosten reduzieren, Renten stärker anheben, Hartz IV steigern, Wohngeld erhöhen, Mindestlohn abschaffen oder ausbauen, und, und, und. Wollte die Bundesregierung das alles umsetzen – sagen wir mal bis zur nächsten Bundestagswahl –, würde das mindestens die Hälfte des Bundeshaushalts kosten.

Und das ist nur der Anfang dessen, was den Interessenvertretern vorschwebt. Zu alledem, und da stehen der Industrieverband, der Sozialverband, Gewerkschaften und Kommunalverbände in seltener Einigkeit beieinander, kommt noch das Schließen der Investitionslücke. Bei Schiene, Straße, Bildung, Energie und Gesundheit wird es mit Nachdruck gefordert, „damit Deutschland nicht weiter zurückfällt“.

Wer das alles aufaddiert, erkennt sofort: Ein paar hundert Milliarden Euro im Jahr müssen zusätzlich her. Aber nicht durch neue Schulden! Da stehen wiederum die Experten und Ökonomen vor. Wie aber dann herauskommen aus dem Dilemma? Auch da sind sich alle einig: Die große Koalition, so steht es auf jeder der weihnachtlichen Forderungen, braucht eine „Strategie“.

Vertrauensverlust in die Wirtschaft wiegt schwer

Welche Strategie aber hat der deutsche Verbändestaat? Ist er vorbereitet auf das 21. Jahrhundert, auf Globalisierung, Alterung und weltweiten Wandel? Oder hält er fest an alten Ritualen und wiegt sich noch in überkommenen Strukturen in Sicherheit, während das deutsche Wohlstandsmodell in seiner herkömmlichen Statur längst ausgedient hat? Wenn Bahner und Piloten nur noch für sich selbst streiken und eine Handvoll Windmüller mehr Einfluss auf die Industriepolitik nehmen können als der Bundesverband der Deutschen Industrie, dann stellt sich die Grundsatzfrage: Welchen Sinn hat es dann noch, das korporatistische Prinzip der Einbindung gesellschaftlicher Gruppen, auf dem sich der deutsche Wohlstand seit Jahrzehnten gründet?

Fakt ist: Deutschlands Verbändelandschaft steckt seit Jahren in einer Legitimationskrise. Von den Unternehmervereinigungen bis zu den Gewerkschaften. Um das festzustellen, braucht man nur das Stichwort Bankenkrise zu nennen, in der die Eliten der Finanzwirtschaft zuerst ihren Bankrott erklären mussten, um dann die Allgemeinheit in Geiselhaft für die Rettung der Volkswirtschaft zu nehmen. Wie viele Investitionen in Breitbandausbau oder Verkehrsinfrastruktur hätte der Staat mit dem Geld der Steuerzahler anschieben können, wäre er nicht mit den Aufräumarbeiten nach dieser Krise beschäftigt gewesen?

Das Ausmaß des daraus folgenden Vertrauensverlustes in die Wirtschaft wiegt schwerer und geht tiefer, als den Betroffenen in den traditionellen Unternehmensverbänden offenbar bewusst ist. Denn die Ressentiments und Vorurteile werden – nach einem kurzen Moment des Innehaltens – weiter geschürt. Wenn massenhaft Stammbelegschaften zugunsten schlechter bezahlter Leih- und Werksarbeiter ausgedünnt werden, die Energiewende ausgebremst, der Mindeststundenlohn von 8,50 Euro als Vorbote des Untergangs bezeichnet wird und alte Männer auf ihrer Dominanz in den Führungsetagen der Unternehmen beharren, dann führt das in der Öffentlichkeit zu dem Schluss: Die Wirtschaftselite hat den Anspruch längst aufgegeben, ihren Teil zur Mehrung des Gemeinwohls zu leisten. Und die Gewerkschaften verlieren zur gleichen Zeit in atemberaubender Geschwindigkeit ihre Bindefunktion als Interessenvertreter der Arbeitnehmer.

Angestaubte „Liste der Verbände“

Das Ergebnis ist eine rasant voranschreitende Atomisierung der ohnehin schon partikularen Interessen. Kleinstgewerkschaften, die offen und ohne Rücksicht aufeinander ihre Ziele verfolgen. Unternehmergruppen, die verschiedene, teils gegenläufige Anforderungen an die Politik richten, obwohl sie derselben Branche angehören. Und global agierende Konzerne, die mittlerweile ihre Agenden vollkommen autark durchsetzen wollen.

Als Sigmar Gabriels Wirtschaftsministerium zur Jahresmitte die Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes vorbereitet hat, erlebten die Beamten einen derartigen Massenauftrieb an Interessenvertretern, dass für künftige Gesetzesvorhaben eine strikte Begrenzung auf eingetragene Verbände festgelegt werden musste. Was da abläuft, ist ein „Rette sich, wer kann“- Szenario, das das Entstehen unübersichtlicher Prozesse befördert, zweifelhafte Berater auf den Plan ruft und das ohnehin existierende Misstrauen in die Lobbyisten-Wirtschaft weiter beschädigt. Das Gezerre um eine angemessene Form von Transparenz, die Voraussetzung für Vertrauen in die parlamentarische Demokratie, steht beispielhaft dafür: Während sich um uns herum Interessenvertretung in öffentlichen Registern zu ihrer Arbeit bekennt, verweisen die Akteure in Berlin auf eine angestaubte „Liste der Verbände“, die mit der Praxis des Lobbyismus kaum noch etwas zu tun hat. Als ob sich im Verbändestaat seit der Bonner Republik nichts getan hätte.

Es wird höchste Zeit für eine „Strategiedebatte“

Die Auflösung der Strukturen hat ihre Ursachen zweifellos in Prozessen wie der Globalisierung und dem technologischen Umbau der Gesellschaft. Aber sie ist auch hausgemacht. Schaut man in die Verbandsstrukturen hinein, begegnet man vermachteten Apparaten mit behördenähnlichen Arbeitsverhältnissen und Hierarchien. Mutige verbandspolitische Ansätze versanden so allzu oft, wenn sie überhaupt entstehen, oder werden mit Rücksicht auf einzelne Mitgliedsgruppen in Kompromissen bis zur Unkenntlichkeit abgeschwächt. Und am Ende wundern sich die Beteiligten, dass etwa das Freihandelsabkommen TTIP in der Öffentlichkeit nur mit dem ekligen „Chlorhühnchen“ in Verbindung gebracht und zwangsläufig abgelehnt oder die „Rente mit 63“ als sozialpolitische Errungenschaft gefeiert wird, obwohl sie im Grunde nur einer kleinen Gruppe zugute kommt.

Die Krise des Verbändestaates führt damit insgesamt zu einer Intransparenz in der politischen Willensbildung. Wem das nutzt? Auf kurze Sicht den Findigen, den Schnellen. Auf lange Sicht keinem. Es wird höchste Zeit für eine „Strategiedebatte“ bei BDI, DGB, DIHK & Co.

Dieser Text erschien in der "Agenda" vom 16. Dezember 2014 - einer neuen Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint. Die aktuelle Ausgabe können Sie im E-Paper des Tagesspiegels lesen.

Ein Abonnement des Tagesspiegels können Sie hier bestellen:

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false