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Brandenburg: Bach-Kantaten aus Atari-Computern

30 000 Besucher kamen zur vierten Nacht der Offenen Kirchen. Sie erlebten experimentierfreudige Musiker und sogar eine Erstaufführung

Ob er an Gott glaube? „Eher an John Lennon“, antwortet Stuart Mason. Eine höhere Macht gebe es vielleicht, „aber keinen Mann, der im Himmel sitzt“, sagt der 39-jährige Engländer und rückt die schnittige Sonnenbrille auf den blonden Stoppelhaaren zurecht. Die jazzigen Rhythmen, die durch die offenen Türen des Französischen Doms über den Gendarmenmarkt ziehen, haben ihn angelockt – der Chor „Spirited“ singt in der voll besetzten Kirche gerade die „New York Mass“ von Christoph Schoepsdau. Eine Erstaufführung, der Auftakt zur Nacht der Offenen Kirchen.

Zum vierten Mal fand die Veranstaltung, die der Ökumenische Rat Berlin-Brandenburg organisiert, statt. Über 100 Berliner und Brandenburger Gemeinden nahmen dieses Jahr teil. Viele hatten im Hof Zelte, Bierbänke und Buffets aufgebaut, Chansonabende, Konzerte oder Ausstellungen wurden angeboten. Und so manche Gemeinde zeigte sich ausgesprochen experimentierfreudig.

Aus der Zionskirche in Mitte dringt ein lang gezogenes Kreischen, so hoch, dass es in den Ohren schmerzt, dann ein jaulendes Auf und Ab und Schnalzen. Zwei Frauen singen im nur von Kerzen beleuchteten Innern Werke von John Cage. „Der hat auch ein Stück geschrieben, das 639 Jahre dauert“, sagt Axel Wicke, der Vikar der Kirche. Das gewagte Programm kommt an, die Bänke sind gut besetzt. Fast leer ist dagegen die Segenskirche in Prenzlauer Berg, dabei ist die Ausstellung hier zumindest bemerkenswert. 60 hellgrau leuchtende Computerbildschirme, die vor dem Altar aufgebaut sind, blenden die Eintretenden, der Rest der Kirche liegt im Dunkeln. Eine Bach-Kantate klingt durch den Raum, mal von links, mal von rechts kommen die Akkorde, die Musik des Atari-Orchesters scheint hin und her zu wandern. Ein Student ist begeistert. Er hört sich mit seiner Freundin gleich drei Stücke an. „Nee, nee“, sagt dagegen eine 54-Jährige aus Bonn und kichert. „Damit kann ich nichts anfangen.“ Sie hätte sich bei der Taizé-Messe in der Mauritiuskirche in Lichtenberg bestimmt wohler gefühlt. Noch spät in der Nacht schweben hier die meditativen Lieder, die traditionell in dem berühmten französischen Orden gesungen werden, durch den Raum.

30 000 Besucher zählen die Organisatoren insgesamt, 10 000 mehr als 2002. 2003 fiel die Veranstaltung wegen des Kirchentages aus. Viele der Besucher gehen sonst nicht zur Kirche. So wie Frieda Hartmann und Katharina Steudtner. Daran werde auch diese Nacht nichts ändern, sagen die beiden Architektinnen. Ähnlich sehen es andere. „An so einem Abend fängt man nicht plötzlich an zu glauben“, sagt ein 33-jähriger Politikwissenschaftler. „Dann schon eher an einem Feiertag, zu Weihnachten oder Ostern.“

Anne Seith

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