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Brandenburg: Schlagen, treten, stechen: Gewalt in den Schulen nimmt zu

Nicht nur ein Großstadtproblem: In den Klassen Brandenburgs breitet sich Angst aus. Die Zahl schwerer Körperverletzungen stieg innerhalb eines Jahres um 36 Prozent

Von Sandra Dassler

Potsdam. Gewalt an Schulen ist nicht nur ein Problem der Großstädte: In Brieselang lauerten drei Gesamtschüler kürzlich einem 16-jährigen Klassenkameraden nach dem Unterricht auf und schlugen ihn krankenhausreif. In Pritzwalk wurde ein 14-Jähriger von zwei Mitschülern genötigt, seinen Geldbeutel herauszugeben. Da dieser leer war, ließen die jugendlichen Täter ihre Wut am Opfer aus: Sie traten und misshandelten es, hielten ihm ein Butterfly-Messer unters Gesicht und drohten, den Jungen zu verstümmeln. Im Bereich des Polizeischutzbereichs Cottbus wurden allein im vergangenen Jahr 15 Schüler von ihren mit Schlagwerkzeugen aufgerüsteten Klassenkameraden so brutal verprügelt, dass sie ins Krankenhaus mussten.

An Brandenburgs Schulen nimmt die Gewalt zu. Laut einer vom Innenministerium in Auftrag gegebenen Abfrage (siehe Kasten) hat sich die Zahl der gefährlichen und schweren Körperverletzungen um 36 Prozent erhöht: Während die Polizei im Jahr 2002 noch 94 solcher Fälle registrierte, waren es 2003 schon 128. Zu gefährlichen und schweren Körperverletzungen zählen Vorfälle, bei denen mehrere Täter auf einen Mitschüler einprügeln oder bei denen das Opfer mit Schlagwerkzeugen traktiert wird oder lebenslange Schäden davonträgt.

Die Zahl der Straftaten insgesamt hat sich im gleichen Zeitraum von 886 auf 904 erhöht, die Zahl der Tatverdächtigen stieg von 838 auf 1123. „Leider müssen wir feststellen, dass die Brutalität, mit der Schüler aufeinander und manchmal auch auf ihre Lehrer losgehen, immer größer wird“, sagt Dietmar Wolter. Er ist als Leiter des Cottbuser Schulamts für ganz Südbrandenburg zuständig. „Die Schulen stehen nicht außerhalb der Gesellschaft“, meint er: „Viele junge Leute erleben zu Hause, aber auch in den Medien, dass sich der Stärkere durchsetzt – egal, welche Mittel er wählt. Die Lehrer können nicht überall sein – die meisten Übergriffe auf Mitschüler geschehen ja nicht im Unterricht, sondern auf dem Schulweg, in einer Hofecke oder in der Toilette.“ Jüngster Fall: die Mahlower „Klotaufe“. Da wurde ein 15-Jähriger mit dem Gesicht ins Pissoir gedrückt und die Wasserspülung betätigt. „Offenbar reichen alle unsere Konfliktschlichter-Programme und Bemühungen um ein friedliches Miteinander an den Schulen noch nicht aus“, sagt Ministeriumssprecher Thomas Hainz, der von den aktuellen Zahlen überrascht wurde: „Natürlich informieren uns Schulämter und Polizei von gravierenden Fällen, aber wir sind bislang davon ausgegangen, dass sich das Gewaltpotenzial nicht vergrößert.“ Vielleicht, hofft Hainz, zeugen die statistischen Zahlen ja davon, dass die Sensibilität gewachsen ist und einfach mehr Straftaten als zuvor angezeigt werden. Die Statistik ist ohnehin trügerisch, weiß Bettina Schubert von der Berliner Schulverwaltung. Sie ist Referentin für Gewaltprävention und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Problematik: „Eine Polizeistatistik muss schon deshalb hinterfragt werden, weil es keine einheitlichen Kriterien für die Erfassung des Tatorts gibt. Oft habe ich erlebt, dass „Schulweg“ eingetragen wurde – nur, weil die Tatzeit zwischen 7 und 7.30 Uhr lag.“ Bettina Schubert hat keine Kollegen in anderen Bundesländern – das Berliner Modell ist bislang einzigartig. „Je frühzeitiger man erkennt, dass sich bei einem Schulkind eine kriminelle Karriere anbahnt, umso größer sind die Chancen, eine solche Entwicklung zu korrigieren“, sagt sie. Es sei bedauerlich, dass es auch nach dem Amoklauf von Erfurt keine bundesweite Initiative gegen physische und psychische Gewalt an Schulen gibt.

Aber Bildung ist Ländersache, und deren Finanznot führt fast überall zur Kürzung bei Präventionsprogrammen. Das beklagt auch Dietmar Sturzbecher vom Institut für angewandte Familien-, Kindheits- und Jugendforschung (IFK) an der Uni Potsdam. „Bis 2001 haben wir in Brandenburg Studien zur Gewalt an Schulen vorgelegt, die eine wichtige Ergänzung und Relativierung von Polizeistatistiken darstellten.“ Sturzbecher und seine Mitarbeiter fanden damals heraus, dass die Zahl der gewaltbereiten Schüler stetig abgenommen hatte. „Brutale körperliche Gewalt ist nur für zwei bis drei Prozent der jungen Leute akzeptabel. Aber die reichen aus, um eine Klasse oder Schule zu tyrannisieren. Diesen ,harten Jungs’ kommt man auch nicht mit Konfliktschlichter-Programmen bei, da muss die Zusammenarbeit zwischen Schulen, Polizei und Justiz verbessert werden.“

Doch dazu gibt es bislang zu wenig Initiativen. Ein positives Beispiel ist der durch die Cottbuser Richterin Sigrund von Hasseln gegründete und inzwischen in vielen deutschen Städten agierende Verein „Jugendrechtshaus“. In ihm arbeiten auch Richter, Staatsanwälte und Polizisten ehrenamtlich mit. Sie gehen in Schulen, klären Zehnjährige über ihre Rechte und Pflichten auf, verteilen Nummern von Not-Telefonen und Jugendhilfe-Einrichtungen. Sie wollen auch Erwachsene sensibilisieren, weil die „zunehmend versäumen, Werte zu setzen und vor allem auch durchzusetzen“. Das meint zumindest ein Mitarbeiter des Jugendrechtshauses, der hauptamtlich Lehrer ist.

Als sich an seiner Schule kürzlich zwei Schüler im dritten Stock so brutal prügelten, dass der eine in die Fensterscheibe fiel und fast zu Tode gestürzt wäre, reagierte die Schulleitung lediglich mit den Worten: „Die Scheibe müsst ihr aber bezahlen.“ In einer Polizeistatistik taucht dieser Fall nicht auf.

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