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Schönefelder Kreuz: Busunglück: Niemand zählt die Tränen

In der kleinen Stadt Zlocieniec bei Stettin wehen die Fahnen auf Halbmast. Fast alle, die hier wohnen, kennen jemanden, der in jenem Bus saß, der am Sonntag südlich von Berlin verunglückte. Wer konnte, reiste an – um im Krankenhaus hoffentlich Lebende zu finden.

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Es sollte für die Eheleute die erste gemeinsame Urlaubsreise werden. Die ganzen Jahre über hatten sie sich nicht viel gegönnt, und auch einen Ausflug nach Spanien hätten sie wohl nicht ernsthaft in Betracht gezogen. Doch der Forstbetrieb im kleinen Zlocieniec, wo die Frau und der Mann ihr Geld verdienen, hatte einen erschwinglichen Preis beim Reiseunternehmen „Pol-Bus“ verhandeln können.

Vor zwei Wochen ging es in die Sonne. Es muss ein schöner Urlaub gewesen sein. Denn im Bus stapelten sich Souvenirs. Weinflaschen, Kissen, Bilder und natürlich Sombrero-Hüte aus Stroh. Doch die wird niemand mehr tragen können und wollen. So wie das Ehepaar verloren elf weitere Menschen auf dem Rückweg von Spanien in die polnische Heimat am Sonntagvormittag am Schönefelder Kreuz ihr Leben. Mit 47 Fahrgästen und zwei Fahrern an Bord war der Bus auf dem Rückweg von Spanien, als ein Mercedes das große Fahrzeug rammte, es ins Schlingern geriet und gegen mehrere Brückenpfeiler prallte. Die Karosserie wurde auf Fensterhöhe eingedrückt, Reisende wurden aus dem Bus geschleudert. Da waren die Urlauber nur noch wenige Stunden von zu Hause entfernt.

Bis zum Montagnachmittag konnten erst sieben der 13 Toten eindeutig identifiziert werden. „Die anderen Personen sind so schwer verletzt worden, dass hier nur eine DNA-Analyse der Haut weiterhilft“, sagt der Präsident des Polizeipräsidiums Frankfurt (Oder), Arne Feuring. „Das dauert bis zu 36 Stunden.“

„Die beiden Kinder im Alter von vielleicht 18 bis 21 Jahren haben erst am Vormittag die schreckliche Nachricht vom Tod ihrer Eltern erfahren“, erzählte der Notfallseelsorger Klaus Scholz am Mittag vor dem Klinikum in Königs Wusterhausen. „Die Tragik ist kaum in Worte zu fassen, denn es muss sich nach den Schilderungen der Kinder um ein sehr bescheidenes Ehepaar gehandelt haben.“

Ganz bewusst haben die polnische Botschaft und die zuständigen Brandenburger Stellen von Polizei, Innen- und Gesundheitsministerium ein Krankenhaus in der Nähe des Unfallortes zum Krisenzentrum gemacht. Hier kann den Angehörigen nach dem Überbringen der Todesnachrichten oder der Mitteilungen über die schweren Verletzungen gleich geholfen werden. Notfallseelsorger aus Deutschland und Polen kümmern sich um die teilweise traumatisierten Personen. Ärzte geben Beruhigungsspritzen, und Geistliche der katholischen Kirchengemeinde spenden tröstende Worte. Niemand zählt die Tränen, die den ganzen Tag über auf den Fluren des Krankenhauses fließen.

Manch einer aus der rund 80-köpfigen Schar der Angehörigen, die mit zwei Sonderbussen noch in der Nacht zu Montag aus Polen nach Deutschland kamen, klammert sich an die letzte Hoffnung, dass der Vater, die Mutter, der Bruder, die Schwester oder der gute Bekannte vielleicht doch noch in einem der 16 Krankenhäuser in Berlin, Brandenburg und Sachsen behandelt wird und nicht zu den Toten zählt. Doch spätestens im Laufe des Abends schwindet diese Hoffnung. Dann kehren die mit Taxis aus Königs Wusterhausen in die einzelnen Krankenhäuser gefahrenen Angehörigen in die provisorische Sammelstelle zurück. Hier wird schließlich die Meldung bestätigt, dass sich unter den Toten auch ein 13-jähriges Mädchen befindet. Eine Nachricht, die am Montagvormittag auch in Zlocieniec angekommen ist.

„Karolina ist tot.“ Das sagt die Frau am Fenster einer Eisdiele in der kleinen Stadt. Etwa 60 Jahre ist sie alt, sie schlägt die Hand vor den Mund: „Karolina ist gestorben, sie haben es gesagt – alle, die ich getroffen habe.“ Maria Cywinska ist sichtlich schockiert. Bozena Fader, die Eisverkäuferin, legt ihr tröstend die Hand auf die Schulter. „Maria hat früher im gleichen Forstbetrieb gearbeitet wie die meisten Menschen im Bus“, erklärt sie. Viele seien ehemalige Kollegen gewesen, und noch wisse man nicht über das Schicksal jedes Einzelnen Bescheid.

„Aber Karolina, das schockiert alle nochmal ganz besonders“, sagt Bozena Fader: „Weil Karolina am Tag vor dem Unglück 13 Jahre alt geworden ist.“

Es regnet an diesem Montag ununterbrochen in Zlocieniec, das etwa 100 Kilometer östlich von Stettin in der Wojewodschaft Westpommern liegt. Vor dem Rathaus hängen die polnische und die europäische Fahne auf halbmast, in der kleinen Grünanlage davor führen Journalisten aus Polen und Deutschland pausenlos Interviews mit Bürgern und manchmal auch mit dem Bürgermeister. Eine Kollegin von Radio Polska fragt mit trauriger Miene Passanten. Fast alle antworten. Fast alle kennen jemanden, der im Bus saß. Noch gibt es keine Gewissheit, wer wie schwer verletzt ist – oder tot.

„Wir haben die Liste“, sagt Leszek Malrzakowski, der gemeinsam mit dem Bürgermeister von Zlocieniec den Krisenstab im Rathaus leitet: Wir machen sie aber noch nicht öffentlich, weil die Toten erst noch identifiziert werden müssen.“

Einige Einwohner von Zlocieniec, die im Reisebus saßen, aber nur leicht verletzt sind, wurden am Montag noch zurückerwartet. „Sie stehen unter Schock“, sagt Malrzakowski. Auch er selbst ist sichtlich bewegt, denn auch er kannte viele Menschen im Bus. Zlocieniec, das früher Falkenburg hieß, hat nur rund 13 000 Einwohner.

Zeit für Trauer bleibt Malrzakowski nicht. Journalisten müssen untergebracht, Bürger betreut und Kondolenzgrüße entgegengenommen werden. Die kommen per Fax, Mail oder Telefon aus allen Teilen des Landes. Im Rathaus bereiten sie ein Kondolenzbuch vor, am heutigen Dienstag soll in der großen Kirche nebenan ein Gedenkgottesdienst stattfinden. Der Priester hat schon an diesem Montag Kerzen angezündet. „Es ist eine Tragödie“, sagt er.

Viele Menschen beten ebenfalls in der Kirche oder sie stehen draußen unter ihren Regenschirmen und reden. „Zlocieniec ist eine freundliche, ruhige und sehr soziale Stadt“, sagt Pawel Wrobel, der in einem Elektronikgeschäft arbeitet und einer der wenigen Einwohner ist, die keinen aus dem Unglücksbus kennen.

Der heutige Dienstag wird in ganz Westpommern zum Trauertag erklärt. Auf dem ersten Parkplatz hinter dem ehemaligen Grenzübergang Pomellen wehen die Werbefahnen vor der Tankstelle schon am Montag auf halbmast. Die laute Musik, die aus der Wechselstube und dem Restaurant tönt, wirkt da etwas seltsam. Zwei polnische Reisebusse stehen auf dem Parkplatz. Die Reisenden sind nicht verängstigt. Klar hätten sie von dem Unglück gehört, sagt eine Frau aus Slupsk. Es sei schrecklich, sicher, aber so etwas passiere halt manchmal, und – sie zwinkert dem Mann zu, der neben ihr eine Zigarette raucht – sie habe volles Vertrauen zu ihrem Fahrer.

Der Landrat von Westpommern hingegen, Wojewode Marcin Zydorowicz, spricht von einer Tragödie. „Ein wenig Trost schöpfen wir aus der vorbildlichen Betreuung der Verletzten durch die deutschen Ärzte und Helfer“, sagt er. „Sie haben bestimmt einige Menschenleben gerettet.“ Der Ort Zlocieniec erhalte umgerechnet 25 000 Euro, um alle Verletzten und Toten zurück in die Heimat zu holen.

Wie groß die Erschütterung über das Unglück in Deutschland ist, zeigt das große Interesse von Fernseh- und Radiostationen, Nachrichtenagenturen und Zeitungen aus dem Nachbarland vor dem Krankenhaus in Königs Wusterhausen. Mindestens 50 Journalisten drängeln sich den ganzen Tag über vor der Polizeiabsperrung und hoffen auf Informationen. Einige Kollegen fahren auch noch einmal an die Unglücksstelle, wo nur noch die durch den Bus eingedrückte Leitplanke an den Zusammenprall mit dem Mercedes erinnert.

Während fast alle polnische Medien der 37-jährigen Fahrerin, die vom Schönefeld-Zubringer auf den südlichen Berliner Ring aufgefahren und dabei mit dem Bus kollidiert war, die Schuld geben, hält sich die Polizei mit einer Unfallanalyse zurück. „Wir werten erst alle Spuren genau aus, untersuchen beide Fahrzeuge und befragen Zeugen“, gibt der Polizeipräsident zu bedenken. Auch die Mitteilung der Staatsanwaltschaft, wonach gegen die Pkw-Fahrerin wegen fahrlässiger Tötung ermittelt werde, sei noch keine Schuldzuweisung. „So ein Verfahren ist bei allen tödlichen Unfällen üblich.“

Im Klinikum Königs Wusterhausen dürfte noch lange keine Ruhe einkehren. Hier sitzen die Angehören zusammen und trösten sich. Wer wollte, konnte ein Hotelzimmer in Anspruch nehmen oder sich auf den Rückweg nach Westpommern machen. Doch die meisten Angehörigen möchten in der größten Not einfach zusammenbleiben.

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