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Brandenburg: „Wasser marsch!“

Immer mehr Politiker besuchen Wittenberge, immer mehr Einwohnern schaufeln Sand – und ein Koch sperrt sich ein

Wittenberge / Rühstädt. Der Wirt des „Dörpkrog an Diek“ bittet die letzten Gäste des Tages um einen außergewöhnlichen Dienst. „Ich schließe die Tür von innen und ihr stapelt draußen die Sandsäcke davor“, sagt Jürgen Srajer. Nach einigen Minuten ist die Kneipentür zur Hälfte verbarrikadiert. Am nächsten Morgen komme sein Lehrling und würde ihn befreien.

Keine 50 Meter sind es vom Haus bis zum Elbdeich. Bei einem Dammbruch könnte die Gaststätte in Abbendorf nahe Rühstädt ein bis zwei Meter unter Wasser stehen. Doch der aus Sachsen stammende Koch und seine Frau wollen ihr Haus nicht aufgeben. „Wir haben zehn Jahre geschuftet und müssen noch zehn Jahre lang den Kredit für das Haus abzahlen“, erzählt Barbara Srajer. Bis zuletzt wollen sie den Dorfkrug verteidigen.

Auch in Wittenberge, nördlich von Rühstädt, bereiten sich die Menschen auf die Wasserwelle vor. Die Innenstadt ist fast menschenleer, am Markt sind die Geschäfte mit Sandsäcken und Holzverschlägen verbarrikadiert. An einem Haus ist das gesamte untere Stockwerk verrammelt. Darüber hat jemand mit Farbe an die Wand gepinselt: „Wasser marsch!“ Nur an einer Litfaßsäule steht ein Mann und klebt Anschläge an. „Ich mache einfach normal weiter“, sagt er und stapft mit seiner Leiter davon.

Gestern tagte das Kabinett in Wittenberge, zuvor war schon Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) da. Entwarnung konnten die Politiker nicht geben. „Die Anspannung bleibt“, sagte Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD). Im Süden werde die Situation besser, meinte Innenminister Jörg Schönbohm (CDU), im Norden schlechter. Die Stepenitz, die nicht mehr in die Elbe abfließen kann, trat über die Ufer und überschwemmte die Straße zwischen Wittenberge und Perleberg. Schönbohm rief Stufe 1 des Evakuierungsplans aus: 3000 Personen sind betroffen.

Vor der alten Wittenberger Ölmühle, direkt am Elbufer, füllen Hunderte Menschen Sandsäcke. Die Schüler haben frei bekommen, nun schaufeln sie gemeinsam mit ihren Eltern in die weißen Beutel mit der gelben Aufschrift „Federal Government of Nigeria“. Selten seit der Wende war das Gelände der maroden Fabrik so belebt. Nur einmal im Jahr, zu den Operettenfestspielen, pilgern die Wittenberger zur Kulisse der verfallenen Backsteinhäuser. Jetzt aber ist dieser Platz das neue Zentrum der Stadt. Hunderte haben die ganze Nacht hier gearbeitet. Lastwagen und Privatautos fahren im Minutentakt mit vollen Säcken zu den Deichen. Landrat Hans Lange öffnet einen Knopf an seinem Hemd. „Wir schaffen das“, sagt er. Doch auch Lange weiß: Ohne Evakuierungen wird es in Wittenberge nicht abgehen. 35 Gemeinden in der Umgebung und einige Stadtteile sollen in den nächsten Tagen geräumt werden, Tausende Einwohner müssen weichen.

Der Gastraum von Jürgen Srajer ist jetzt leergeräumt. Die Möbel stehen bei Freunden. Nur die alte Kochmaschine war zu schwer. „Es wäre schade, wenn hier alles kaputt gehen würde. Ich wüsste gar nicht, wo ich dann den Knieperkohl zubereiten könnte“, erzählt Srajer, der sich als Meister des „Prignitzer Nationalgerichtes“ bezeichnet. Unter seiner Kochschürze trägt er einen Brustbeutel. Inhalt: „Mein SV-Buch aus DDR-Zeiten, damit ich Rente bekomme, meine Arbeitserlaubnis als Koch und andere lebenswichtige Dokumente.“

Obwohl der Gasthof wegen der Polizeisperren offiziell nicht mehr zu erreichen ist, hat das Ehepaar viel zu tun. Deichläufer und Feuerwehrleute erhalten Gulaschsuppe. Zu den Bundeswehrsoldaten, die den Deich erhöhen, bringt der Koch Essen. Die Soldaten revanchieren sich mit Sandsäcken. Zum Abschied winkt der Gastwirt aus einem Fenster im oberen Stockwerk. Im ganzen Umzugstrubel ist der Schlüssel für die Tür verloren gegangen. Deshalb sollen die Sandsäcke nicht nur das Wasser, sondern auch Diebe abhalten.Robert Ide / Claus-Dieter Steyer

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