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Brandenburg: Wünsdorf: Leserattenfängerstadt

Auf dem ersten Blick mutet die Bezeichnung "Bücherstadt" etwas übertrieben an. Drei Häuser ergeben nun einmal noch keine City.

Auf dem ersten Blick mutet die Bezeichnung "Bücherstadt" etwas übertrieben an. Drei Häuser ergeben nun einmal noch keine City. Aber die Einzigartigkeit des Angebots verführte wohl zu dieser überschwenglichen Werbebotschaft. Tatsächlich gibt es nur in dem 60 Kilometer südlich von Berlin gelegenen Wünsdorf eine derartige Häufung von Antiquariaten: 16 selbstständige Unternehmen stellen hier rund 150 000 Bücher aus. Es sollen schrittweise noch mehr werden.

Etwa 50 000 Bücherfreunde kommen jedes Jahr in die 1998 nach gründlicher Renovierung eröffneten Gebäude. Eine aufwendige Arbeit, denn mehr als ein Jahrhundert lang beanspruchte das Militär die Gegend für sich. Von der einstigen Zweckbestimmung ist heute kaum noch etwas zu spüren. Auch im so genannten "Badehaus" nicht, in dem die meisten Antiquariate der Bücherstadt untergebracht sind. Noch bis August 1994 wurde das von den russischen Soldaten dem Namen entsprechend genutzt - vorheriger Aufmarsch auf dem heutigen Parkplatz inklusive. Einmal wöchentlich wurde in der Regel zum kollektiven Bad gerufen.

Ein anderes Gebäude trägt den stolzen Namen "Kommandantenvilla". Den Weg weist ein in Bronze verewigter Kosmonaut oder Jagdflieger. Über die Identität des in Heldenpose dargestellten Mannes streiten sich noch immer die Geister. Am wahrscheinlichsten klingt die Variante "German Titow", der als zweiter Raumfahrer nach Juri Gagarin die Erde umrundete. Keine Zweifel bestehen dagegen an der vormaligen Nutzung des für weitere Antiquariate vorgesehenen Hauses: "Pferdestall" heißt der längliche Bau seit Anfang des 20. Jahrhunderts - und der Name war Programm.

Den größten Vorteil dieser alten Gebäude fasst Hartmut König, seit vier Jahrzehnten im Geschäft und Sprecher der Wünsdorfer Antiquare, kurz und bündig zusammen: "Viel Platz und Helligkeit." Die Besucher der Bücherstadt, deren Idee auf ein Vorbild aus Wales zurückgeht, sollten mit Lust und ungestört in den Regalen stöbern. In den dafür eingerichteten Leseecken können die Werke angelesen oder durchgeblättert werden.

Die meisten Kunden schätzen die große Auswahl. Es fehlt kaum eine Sparte: Geisteswissenschaften, Geschichte, Technik, Klassiker, Kochbücher, Orts- und Landeskunde mit Schwerpunkt Berlin/Brandenburg, Theologie, Architektur, Recht, Medizin, Abenteuer-Romane oder Krimis, Literatur in Englisch und Russisch oder frühere Bückware aus DDR-Verlagen. Bei der Suche nach bestimmten Exemplaren hilft entweder einer der stets anwesenden Antiquare oder ein Klick auf die Internetseite.

Allein das Angebot für Musik-, LiteraturLiebhaber fehlt bislang komplett. Der bisher in Wünsdorf vertretene Spezialist Heiner Receszos hat sich aus privaten und beruflichen Gründen wieder in seine Heimat Wiesbaden zurückgezogen. "Aber wir hoffen auf baldigen Ersatz", sagt Hartmut König. Ohnehin bestünde in den Häusern noch Platz für weitere Interessenten. "Wir stehen mit unserem Projekt auf festem Boden", sagte unter Anspielung auf den ins Schlingern geratenen Umbau des früheren russischen Militäroberkommandos zu einer Wohn- und Gewerbesiedlung.

Die Finanzkrise der damit betrauten Landesentwicklungsgesellschaft LEG führte im Sommer zum weitgehenden Stopp des einstigen Prestigeobjektes der Landesregierung. "Glücklicherweise unterstützt uns jetzt ein seit langem in Wünsdorf engagierter privater Bauunternehmer", sagt Hartmut König. "Damit können wir nicht nur unsere ureigene Arbeit fortsetzen, sondern auch die regelmäßigen Lesungen, Konzerte und Führungen durch die ober- und unterirdischen Bunker und andere Hinterlassenschaften der Armeen fortsetzen." Schließlich solle der Ausflug nach Wünsdorf zu einem Erlebnis für die ganze Familie werden. So mancher Bücherfreund entdeckte dabei oft zufällig die hier unmittelbar erlebbare Militärgeschichte. Andererseits fanden sich auch nicht weniger Ausstellungsbesucher bei ihren Spaziergängen unvermittelt inmitten unzähliger Bücher wieder.

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