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Berliner Wirtschaft: Mit ruhiger Hand

Werkstätten für Behinderte arbeiten der Industrie zu, bieten aber auch immer mehr Dienstleistungen an

Die guten ins Töpfchen, die schlechten in Kröpfchen: Sieht man Marcel Schilling bei der Arbeit zu, fühlt man sich an das Märchen von Aschenputtel erinnert. Wie die Tauben aus der Geschichte sortiert er Qualität und Ausschuss auseinander – allerdings keine Linsen, sondern kleine Scharnierteile für Schränke. „Auf den Guten ist eine andere Zahl eingestanzt als auf den schlechten“, erklärt Marcel Schilling, ein rundlicher 24-Jähriger im Blaumann eifrig und beugt den Kopf über eine beleuchtet Lupe. So kann er die Ziffern besser erkennen.

Marcel Schilling arbeitet in der Metallwerkstatt im Erdgeschoss des Wilhelminenhofs in Oberschöneweide – einem der sechs Standorte der gemeinnützigen Stephanus-Werkstätten Berlin. 750 Menschen mit Behinderung bieten Dienstleistungen an und produzieren Waren – im Wert von 2,2 Millionen im Jahr 2008. Es ist der größte Berliner Betrieb dieser Art.

Neben dem Sortieren steht auch Elektro- und Industriemontage auf dem Programm der Werkstätten, Metallbearbeitung, Kabelkonfektionierung, Möbelmontage und Lebensmittelverpackung. Außerdem betreiben Schillings Kollegen eine Wäscherei, eine Gebäudereinigung, eine Tischlerei und eine Töpferei. Sie kümmern sich um Umzüge und Transporte, Garten- und Landschaftspflege, stellen Kerzen her und bewirten Gäste – in einem Café und bald auch in der „Waschbar Wilhelminenhof“: Gleich neben der Metallwerkstatt entsteht gerade ein Waschsalon mit Internetcafé für die Studenten der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. Die Werkstatt liegt auf dem Campus Wilhelminenhof, einem neuen Standort, der am 1. Oktober eröffnet – ebenso wie das Waschcafé. Bis vor kurzem war in diesem Raum die Holzwerkstatt, wie Werkstättenleiter Daniel Klappenbach erzählt. Die sei zu klein gewesen und an einem anderen Standort untergebracht worden – im Ulmenhof in Wilhelmshagen. Dort werden für Berliner Ikea-Filialen die „Fundgruben“-Möbel zusammengebaut. Es gebe einen Trend, mehr Dienstleistungen anzubieten, sagt Klappenbach. „Wäscherei und Gartenbau sind gute Einnahmequellen.“

Während im zukünftigen Waschcafé noch die Maschinen angeschlossen werden, ist in der Metallwerkstatt etwas anderes wichtig: In zwei Tagen will ein Kunde eine Ladung Lichtleisten für Neonröhren abholen, die hier montiert werden. Sie sollen später einmal im Flughafen Schönefeld Leuchtreklamen erhellen. Marcel Schillings Kollege Roman Henke drückt gerade den großen Hebel der Kniehebepresse herunter und schiebt so eine Fassung für eine Neonröhre in eine Metallleiste. Vorher hat er Löcher hineingebohrt und bringt jetzt eine Vorrichtung an, mit der die Neonröhre später gestartet wird. Schilling guckt ihm über die Schulter und gibt fachmännische Kommentare über „Stromführungsleiter“. Er baut auch manchmal Lampen. „Das macht Spaß, genau so wie das Sortieren.“ Nur die Ersatzteile für Fahrstühle aus DDR-Produktion, die andernorts nicht mehr hergestellt werden, stanzt er nicht so gern aus Kupfer aus. Das ist ihm zu mühselig.

Nach der Frühstückspause gegen neun Uhr bringt Roman Henke ein ganze Palette voll halbfertiger Lampen in den ersten Stock. Dort werden sie verkabelt und getestet. Thomas Kraus, 39 Jahre alt, mit Ohrring und Schnauzbart, präpariert mit der Isolierzange die Kabelenden und zischt vor Konzentration zwischen den Zähnen hindurch. Früher sei er mal als Gehilfe in der Apotheke der Charité beschäftigt gewesen und habe zum Beispiel Reagenzgläser sortiert und gespült. „Aber da habe ich die Leistung nicht geschafft“, sagt er. In der Behindertenwerkstatt fühle er sich wohler. Auch Marcel Schilling findet es dort nicht schlecht: „Es ist angenehm, dass es hier nicht auf Schnelligkeit ankommt und es so ruhig ist“, sagt er. „Und wenn man wie ich zu 70 Prozent geistig behindert ist, muss man ja in einer Behindertenwerkstatt arbeiten.“

Doch so ganz stimmt dies nicht. „Menschen mit Behinderungen sollten die Möglichkeit haben, in regulären Betrieben zu arbeiten, wenn sie das möchten“, sagt Heike Weineck vom Landesbeirat für Menschen mit Behinderung. Deshalb habe der Senat gerade ein Programm gestartet: Die „Schwerbehinderten-Joboffensive 2010“ soll in den kommenden zwei Jahren 100 Arbeitsplätze und 50 Ausbildungsplätze auf dem regulären Arbeitsmarkt schaffen. 8,7 Millionen Euro stellt der Senat zur Verfügung, um Betriebe zu fördern, die sich beteiligen.

„Mir ist das mit den ganzen Auflagen viel zu umständlich, wenn man sich an so einem Programm beteiligt, sagt Malermeister Dirk Kämmer aus Wilmersdorf. Trotzdem beschäftigt er zwei Auszubildende mit Behinderungen. Er ist eine Kooperation mit einer Weddinger Sonderschule eingegangen und ist begeistert von den Absolventen: „Die kann man im Gegensatz zu Hauptschülern auf die Kunden loslassen, und sie bringen oft bessere Fähigkeiten mit.“

Ob nun eine spezielle Werkstatt oder ein regulärer Betrieb besser geeignet sei, müsse von Fall zu Fall entschieden werden, sagt Heike Weineck. Im allgemeinen findet sie aber externe Betriebe besser: „Dort können sie eigenständiger arbeiten und bekommen ein richtiges Gehalt – nicht nur ein Taschengeld.“

„Arbeit ist wichtig, sonst hat man ja kein Geld“, sagt auch Schilling. Er und seine Kollegen verdienen zwischen 120 und 150 Euro im Monat, je nachdem wie viel Engagement sie zeigen. „Bald kriegen wir aber weniger Geld“, sagt Marcel Schilling etwas sauer. 80 Prozent der Einnahmen würden unter den Mitarbeitern verteilt, sagt Werkstättenleiter Daniel Klappenbach. Doch in diesem Jahr seien die Einnahmen wegen der Wirtschaftskrise viel geringer als im vorigen. „Es fehlen Zulieferaufträge aus der Industrie“, bedauert Klappenbach.

„Mit 40 will ich hier aufhören“ , sagt Marcel Schilling. „dann habe ich genug gearbeitet.“ Dann will nur noch in den Müggelbergen spazieren gehen. Dafür spart er eifrig sein kleines Gehalt. Aber vielleicht muss er doch noch ein bisschen länger arbeiten.

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