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Immobilien: Geheimnisvoller Schmarotzer

Ein heidnischer Kult hat das christliche Abendland erobert: Der Mistelzweig als weihnachtliche Dekoration

Allerorten schmücken Mistelzweige zur Weihnachtszeit Haustüren oder Zimmerdecken. Denn die immergrünen Zweige mit ihren perlenartigen Beeren verheißen Glück. Wer unter einem Mistelzweig hindurch schreitet, darf sich nicht wundern, wenn er plötzlich geküsst wird. Für unverheiratete Paare soll das die Hochzeit im folgenden Jahr bedeuten, zumindest aber Liebe und Freundschaft zwischen den Küssenden. Die Tradition stammt aus England. Bis ins frühe 19. Jahrhundert war dort die Mistel der einzige Weihnachtsschmuck. Vermutlich entstand der Brauch des Kusses unterm Mistelzweig in Zeiten strenger Sitten und diente nicht verlobten Paaren als Vorwand, öffentlich Gefühle zu zeigen.

Mit der weihnachtlichen Mistel-Dekoration pflegen wir – meist ohne es zu wissen – einen uralten Mythos. Die aparte Pflanze – ihr lateinischer Name lautet Viscum album (viscosus = klebrig, albus = weiß und beschreibt die Beeren) – übt seit frühesten Zeiten eine magische Anziehungskraft auf die Menschen aus. Römer, Kelten und Germanen schrieben ihr geheimnisvolle Heil- und Zauberkräfte gegen das Böse zu. In der griechischen Mythologie dringt Äneas mit der „goldenen Zauberrute“ aus Misteln in die Unterwelt ein; auch dem Gott Merkur diente ein Mistelast zum Öffnen der Tore des Hades, wenn er die Toten dorthin begleitete. Hippokrates erwähnte bereits um 400 vor Christus die Heilwirkung von Misteln, Hieronymus Bock und Petrus Andreas Matthiolus sagten ihr im 16. Jahrhundert Heilkräfte gegen Geschwüre nach und Sebastian Kneipp empfahl die Pflanze zur Blutstillung und gegen leichte Herzstörungen.

Die Germanen hielten den hoch oben in den Bäumen hängenden, immergrünen Kugelbusch für eine vom Himmel gefallene, daher göttliche Pflanze. Den Priestern der Kelten, den Druiden, galt die Mistel als das Allerheiligste. Zur Wintersonnenwende, und zwar am sechsten Tag nach Neumond, musste sie geschnitten werden. Weißgekleidet bestiegen die Druiden die Bäume und schnitten die Mistel mit einer goldenen Sichel. Der daraus bereitete Zaubertrank galt als Allheilmittel. Das wissen wir spätestens seit Asterix und Obelix, die sich dank des Misteltranks von Miraculix gegen alle Feinde erfolgreich wehren können. Für die Römer waren die Misteln ein Symbol des Friedens: Wenn Feinde sich unter dem Mistelzweig trafen, legten sie die Waffen ab und erklärten eine Waffenruhe. Vielleicht rührt daher auch der Brauch, sich unter dem Mistelzweig zu küssen.

In Europa und Skandinavien weisen prähistorische Funde die Mistel schon im fünften Jahrhundert vor Christus in Siedlungsbereichen nach. Auch in den altgermanischen Siedlungen Norddeutschlands findet sich an Giebeln alter Bauernhöfe der „Donner- oder Hexenbesen“, wie die Mistel im Volksmundbezeichnet wurde. Man hängte sie ins Haus, den Stall oder unter das Dach, um böse Geister, Hexen und die Blitzgefahr zu bannen.

Die mystische Verehrung verdankt die Mistel sicher auch ihrem ungewöhnlichen Lebensraum. Als Halbschmarotzer wächst der immergrüne, kugelige Kleinstrauch wie ein riesiges grünes Vogelnest hoch oben in den Kronen von Bäumen, was jetzt im Winter besonders gut zu sehen ist.

Es gibt drei Arten von Misteln: Die Laubholzmistel wächst ausschließlich auf Weiden, Ahorn, Pappeln, Apfelbäumen und – allerdings äußerst selten – auf Eichen. Die Tannenmistel gedeiht, worauf der Name hinweist, auf Tannen und die Föhrenmistel ist auf Kiefern zu finden. Die blassgelben Blüten erscheinen – bevor der Baum Blätter treibt – von März bis April und duften sehr intensiv. Sie bieten frühen Nektarsammlern die noch rare Nahrung. Die weißen, für Menschen giftigen Beeren hingegen reifen erst ab November. Sie sind für rund 28 Vogelarten, darunter die Misteldrossel, eine begehrte Nahrungsquelle. Die klebrigen, unverdaulichen Samen gelangen über den Kot der Vögel von Baum zu Baum.

Nach dem Keimen in einer Rindenritze beschafft sich die Pflanze mit speziellen Saugwurzeln vom Wirtsbaum Wasser und darin enthaltene Nährsalze. Da der Halbparasit, so die botanische Kennzeichnung, selber Chlorophyll bilden kann, der seinen Blättern die grüne Farbe gibt und über die Photosynthese die zum Wachsen nötigen Nahrungsstoffe erzeugt, schädigt die Mistel ihren „Wirt“ kaum. An einem absterbenden Ast kann die langsam wachsende Mistel allerdings nicht überleben.

Doch diese Pflanze, die hoch oben über allem schwebt, nie die Erde berührt und bitterem Frost mit grünen Blättern und weißen Beeren trotzt, wird auch weiterhin viele Menschen in der Weihnachtszeit mit ihrer Mystik und Magie verzaubern – der Kuss unter dem Mistelzweig wird es zeigen.

Margit Mertens

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