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Die Fenster dreifach verglast, die Holzfassade mit Zellulose gedämmt. Das Nullemissionshaus Boyenstraße in Mitte kommt mit 16 Kilowattstunden Heizwärme pro Jahr und Quadratmeter aus.

©  sveapietschmann.de

Nullenergiehaus Boyenstraße: Energiewende auf dem Mauerstreifen

In der Boyenstraße in Mitte ist ein ökologisches Vorzeigeprojekt fertiggestellt worden.

Hohe Heizkosten machen vielen Berlinern Sorgen. Nicht aber den Bewohnern des siebengeschossigen Mehrfamilienhauses in der Boyenstraße 34/35, das in diesem Mai auf dem ehemaligen Mauerstreifen zwischen Mitte und Wedding fertiggestellt worden ist: Wenn die Berechnungen stimmen, so müssen sie für eine hundert Quadratmeter große Wohnung pro Jahr höchstens 300 Euro für Heizung und Warmwasser ausgeben. Pro Quadratmeter und Monat wären dies 0,25 Euro – nicht einmal ein Viertel dessen, was nach der vom Senat veröffentlichten Betriebskostenübersicht bei einer durchschnittlichen Berliner Mietwohnung fällig wird.

Die Bewohner der Boyenstraße sind allerdings keine Mieter, sondern Eigentümer. Und sie dürfen sich nicht nur über geringe Nebenkosten freuen, sondern auch darüber, in einem ökologischen Modellprojekt zu wohnen. Das Mehrfamilienhaus ist nämlich ein sogenanntes Nullemissionshaus – was bedeutet, dass es rechnerisch kein CO2 ausstößt. Schon vor seiner Fertigstellung ist es mit einem Preis ausgezeichnet worden, nämlich mit dem von einem breiten Verbändebündnis verliehenen Klimaschutzpreis 2012. Ein wichtiger Baustein des energetischen Konzepts ist die Dämmung, wie Christoph Deimel vom Berliner Architekturbüro Deimel Oelschläger erläutert, das den Neubau für eine Baugruppe geplant hat. Die Fenster sind dreifach verglast, und in die Holzfassade ist eine Zellulosedämmung integriert.

Bei der Energieerzeugung setzen die Planer auf eine Kombination aus Blockheizkraftwerk (BHKW) und Fotovoltaikanlage. Dass das BHKW im Keller über Erdgas betrieben wird, stört die gute Energiebilanz nur auf den ersten Blick: Zwar stößt Erdgas CO2 aus; weil diese Emissionen aber mit der Energiebilanz der Fotovoltaikanlage auf dem Dach verrechnet werden, resultiert rechnerisch trotzdem der Nullemissionsstatus.

Verbraucht wird der von der Fotovoltaikanlage erzeugte Strom vorrangig im Gebäude selbst; der Rest wird ins allgemeine Stromnetz eingespeist. In erster Linie versorgt der auf dem Dach produzierte Strom die Lüftungsanlage, die ein zentrales Element des Energiekonzepts darstellt. „Dabei handelt es sich um eine mechanische Be- und Entlüftung mit Wärmerückgewinnung“, sagt Deimel. Das bedeutet, dass es in den Wohnungen – mit Ausnahme einer Handtuchheizung im Bad – keine Heizkörper gibt. Frieren müssen die Bewohner trotzdem nicht, da Wärme über die Lüftungsanlage verbreitet werden kann.

Damit dieses System funktioniert, sollten die Bewohner der 21 Wohnungen allerdings im Winter nicht zu lange die Fenster öffnen. „Man kann zwar kurz lüften“, sagt Deimel, „muss aber darauf achten, dass die Temperatur nicht unter 18 Grad fällt.“ Sorgen, dass die Hausbewohner sich nicht angemessen verhalten, macht sich der Architekt nicht: Schließlich hätten sie sich sehr bewusst der Baugruppe angeschlossen und damit für die energieeffiziente Bauweise entschieden.

Das Nullenergiehaus benötigt nicht mehr Energie, als es selber erzeugt. Das soll nach den Zielen der EU bei Neubauvorhaben zum Standard werden. Um hierzulande die Energiewende entscheidend voranzutreiben, reicht das allerdings nicht aus. Der größte Teil des Energieverbrauchs entfällt nicht auf neue Gebäude, sondern auf den Bestand. Eine Lösung ist, diese durch Sanierung auf den Plusenergie-Standard zu heben. Das ist sogar noch besser als ein Nullenergiehaus: Plusenergiehäuser erzeugen in der Jahresbilanz mehr Energie, als sie verbrauchen.

Auch im Mietwohnungsbau setzen sich innovative Energiekonzepte durch

Beim Modellvorhaben „Auf dem Weg zum Effizienzhaus Plus“ der Deutschen Energie-Agentur (dena) wird ein 120 Jahre altes Gutshaus in Beelitz-Zauchwitz bei Berlin zum Plusenergiehaus umgebaut. Das Projekt soll beweisen, dass Plusenergie auch im Altbau möglich ist - ohne auf die architektonische Qualität historischer Gebäude zu verzichten.

Nicht nur im Eigentumsbereich, sondern auch im Mietwohnungsbau setzen sich immer öfter innovative Energiekonzepte durch – wenn auch bisher nur selten in Berlin. So feierte vor kurzem Bundesbauminister Peter Ramsauer im bayerischen Bischofswiesen die Fertigstellung eines kleinen Mehrfamilienhauses mit sechs Wohnungen, das den Berechnungen zufolge mehr Energie erzeugt als verbraucht. Und in Frankfurt am Main beging die Nassauische Heimstätte, ein großes Wohnungsunternehmen im Eigentum der öffentlichen Hand, im Juni den ersten Spatenstich für ein sogenanntes Effizienzhaus plus. Auch dieses Gebäude mit 17 Wohnungen stößt rechnerisch kein CO2 aus; zudem sollen mit dem von der Fotovoltaikanlage erzeugten Strom Elektroautos versorgt werden. Im Unterschied zum Haus in der Boyenstraße setzt das Frankfurter Projekt bei der Energieversorgung ausschließlich auf Strom – geheizt wird über eine strombetriebene Wärmepumpe. „Wir müssen jetzt anfangen, zukunftsorientiert zu bauen und neue Technologien auf Massentauglichkeit zu testen, wenn wir die Energiewende im Gebäudebereich schaffen wollen“, begründet Thomas Dilger, Leitender Geschäftsführer der Nassauischen Heimstätte, warum sich sein Unternehmen auf das Projekt eingelassen hat.

Solche Anstrengungen fördert die Bundesregierung mit ihrem Forschungs- und Modellvorhaben „Effizienzhaus plus“. Das Berliner Mehrfamilienhaus hingegen musste ohne finanzielle Förderung auskommen. Trotzdem betrugen die gesamten Bau- und Planungskosten inklusive Grundstück lediglich 2480 Euro pro Quadratmeter – deutlich weniger, als Bauträger für Eigentumswohnungen in ähnlicher Innenstadtlage verlangen. Dabei verfügt das Haus sogar über große Gemeinschaftsflächen, deren Kosten auf die einzelnen Eigentümer umgelegt werden mussten. Der Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss eignet sich für Besprechungen und Veranstaltungen, und auch die Dachterrasse steht allen Bewohnern des Hauses offen.

Nachhaltig will das Berliner Baugruppenprojekt aber nicht nur in Bezug auf die Energieeffizienz sein, sondern auch mit seinem sozialen Ansatz. So planten Christoph Deimel und seine Büropartnerin Iris Oelschläger die Wohnungen so, dass sie sich je nach Lebensumständen zusammenlegen oder teilen lassen.

Das letzte Projekt dieser Art soll es nicht sein. Deimel und Oelschläger streben am Rande des Wissenschafts- und Technologieparks Adlershof sogar den Standard eines Plusenergiehauses an. Noch werden Mitglieder der Baugruppe gesucht; doch Christoph Deimel ist zuversichtlich, bis Ende dieses Jahres so viele Mitstreiter gefunden zu haben, dass das Grundstück für den ersten Bauabschnitt mit vierzig Wohnungen angekauft und das Newtonprojekt realisiert werden kann. (mit dpa)

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